Thesen zur Nahost-Debatte

Aurora Räteaufbau hüllte sich seit Wiederaufflammen des Nahostkonflikts in Schweigen. Die Gründe für dieses Schweigen waren unterschiedlicher Natur: Zum einen erschwerte ein breites Spektrum an Positionen und Wissensständen zur Thematik innerhalb unserer Gruppe das Aushandeln einer gemeinsamen Basis für eine Positionierung. Die Schwierigkeit einer internen Aushandlung wurde durch das Gefühl großer Feindseligkeit und Misstrauen innerhalb der Linken verstärkt. Der Wille zur sozialen Repression von Linken gegen Linke versetzte uns in eine Schockstarre.

Zum anderen herrschte weitgehende Übereinstimmung darüber, dass eine halbgare Stellungnahme unsererseits den linken Diskurs zum hoch emotionalisierten Israel-Palästina-Komplex nicht bereichern würde. Dem Drang unzähliger linker Gruppen jeglicher Couleur schnellstmöglich Stellungnahmen zu veröffentlichen, wollten wir nicht folgen. Dieser Drang, oftmals durch politisch-sozialen Druck befeuert, folgte größtenteils der Logik, durch ein Bekennen zu diesem oder jenem Narrativ die eigene Zugehörigkeit und Tauglichkeit für sein präferiertes Lager unter Beweis zu stellen. Wir verurteilen nicht, wenn linke Organisationen diesen Drang verspüren und ihm nachgehen; wir für unseren Teil sahen bei uns Selbstbildung, Analyse und Diskussion zum betreffenden Thema als notwendige Voraussetzung, um zu einer Stellungnahme fähig zu sein. Das Resultat ist ein thesenhaftes Schriftstück, das versucht, den ein oder anderen Gedanken zu formulieren und in die inner-linke Diskussion einzubringen.

Ziel unseres Thesenpapiers ist es eine revolutionär-kommunistische Perspektive innerhalb der BRD anzubieten, die die Lösung des Nahostkonflikts/Palästinafrage in der Überwindung des israelischen Staates sieht, und damit versucht im mehrheitlich proisraelischen Diskurs in der deutschen Gesamtlinken zu intervenieren. Gleichzeitig wollen wir eine Grenze zu Positionen ziehen, die jegliche Aktionen palästinensischer Organisationen kritiklos goutieren.

1. Zum deutschen und internationalen Diskurs

Das Massaker vom 7. Oktober, der nachfolgende Einmarsch der israelischen Armee, der Massenmord in Gaza und die ethnische Säuberung der palästinensischen Bevölkerung im Allgemeinen verhärtet die durch den Kolonialismus gezogenen Rasseschranken der politischen Herrschaft und verunmöglicht eine langfristige, die Trennung beider Bevölkerungen aufhebende Lösung für alle.

Der hiesige Diskurs im Mainstream rund um die jüngste Eskalation im Nahostkonflikt war von Beginn an bemüht, auf Narrative aufzuspringen deren Zweck die Dämonisierung der palästinensischen Bevölkerung darstellte. Von der Verbreitung von Falschinformationen, zur Verteuflung von propalästinensischen Veranstaltungen als per se antisemitisch bis zur falschen abstrakten Identifizierung aller Palästinenser:innen mit militanten palästinensischen Befreiungsorganisationen war alles dabei. Auch der internationale linke Diskurs bekleckerte sich nicht nur mit Ruhm. Gerade in antiimperialistischen Diskursen auf Social Media war es vor allem zu Beginn virulent, reflexartig jegliche Gewaltverbrechen an israelischen Zivilist:innen zu leugnen, was mit der Rechtfertigung endete, dass Gewalt gegen zivile Ziele legitim sei, da alle Israelis Siedler:innen seien.

1. These: Auch wenn das aktuellste Blutvergießen im Nahostkonflikt die Gemüter zu Recht erhitzt, ist gerade dann die Notwendigkeit geboten, nicht in vereinfachtes Lagerdenken zu verfallen und das betreffende Phänomen (die Kräfteverhältnisse, Ideologien, Akkumulationsregime und so weiter) zu analysieren. Erst aus dem Verständnis der materiellen Umstände lässt sich ein Urteil formulieren, das Aufschluss darüber gibt, wie die traurige Realität, in der wir uns befinden, überwunden werden kann. Es kann nicht unser Ausgangspunkt als Kommunist:innen sein, Denkschranken und -verbote zu akzeptieren – da wo alle aufhören, müssen wir weiterdenken!

2. Zum „Existenzrecht“ und seiner diskursiven Funktion

Als Gretchenfrage im weltweiten Diskurs und geeignetes Mittel um die Fronten zwischen deutschen Linken ein für alle Mal zu klären, stellt sich die Frage nach dem Existenzrechts Israels.

Menschen, die einfordern, dass ein „Existenzrecht“ Israels anzuerkennen sei, tun dies, weil die Shoa, als Zäsur der Menschheitsgeschichte, die Notwendigkeit eines „Schutzraumes für Jüdinnen:Juden“ eindeutig gemacht habe. Dabei war die Shoah viel mehr Katalysator für das zionistische Projekt statt Ursache, insofern die zionistische Bewegung bereits zum Zeitpunkt der Shoah eine 60-jährige, durch den europäischen Imperialismus geschützte, Kolonisierungspolitik betrieb. Israel als Schutzraum zu sehen, verkennt, dass der israelische Staat im jahrzehntelangen Konflikt mit dem Westjordanland und Gaza, eine politische Situation schafft, in der er sich stets nach Belieben im bürgerlich-demokratischen Werkzeugkasten auch Mitteln des autoritären Polizeistaates bedient. Das wird zwar in erster Linie den Palästinenser:innen zum Verhängnis, aber eben im Zweifel auch allen non-konformen Israelis und Jüdinnen:Juden. Die Rede vom „Schutzraum“ ist also dahingehend zynisch, dass dieser Status quo des eingehegten Dauerkrieges im Zweifel die Heimat von unterdrückten Jüdinnen:Juden darstellen soll; eine Heimat, die auf der Unterdrückung der Palästinenser:innen und fortwährenden Militarisierung beider Bevölkerungen gründet.

Ein Teil der Kritiker:innen Israels meinen, Israel das Existenzrecht absprechen zu können, weil sich Israel durch seine Geschichte und sein anhaltendes staatliches Handeln aus dem Kreis der zu tolerierenden anständigen Staaten disqualifiziert habe. Durch Siedlerkolonialismus habe man Landraub verübt und die „rechtmäßigen“ Bewohner:innen des „Heiligen Landes“ vertrieben und ermordet, was eine Kontinuität bis zum heutigen Tag darstelle, wenn z.B. ohne Rücksicht auf Kollateralschäden in Gaza gebombt wird und im Westjordanland israelische Soldat:innen ungesühnt Palästinenser:innen drangsalieren und ermorden. Das Urteil laute, dass Israel dermaßen über die völkerrechtlichen Stränge schläge, dass es kein Recht habe zu existieren – dabei wird jedoch Legitimität von staatlichen Handlungen mit staatlichen Existenzgründen verwechselt.

2. These: Staaten wird kein Existenzrecht zugesprochen. Staaten besitzen die Fähigkeit zur Existenz kraft ihrer gesamtstaatlichen Macht und Potenz, die sich durch ökonomische, politische, militärische usw. Kapazitäten definiert. Alles andere, wie zum Beispiel internationale Institutionen, sind nur Austragungsorte der Beziehungen dieser international verflochtenen und konkurrierenden Staaten. Die Rede vom Existenzrecht entzaubert sich jedoch nicht nur an der Erkenntnis darüber, was der wahre Inhalt von Staaten ist, sondern auch am bürgerlichen Diskurs selbst. Denn mit Blick auf die von israelischer Seite verunmöglichte Zwei-Staaten-Lösung haben sich allerlei bürgerliche Lösungsvorschläge herausgebildet, die entweder einen binationalen Staat oder Konföderationsmodelle vorsehen, die auf die Auflösung des israelischen Staates und seiner Souveränität in seiner heutigen Form hinauslaufen. Dass diese Vorschläge unter progressiven Anti-, Post- und Zionisten diskutiert werden, sollte Anlass genug sein, die Tabuisierung einer emanzipatorischen Nationalitätenpolitik im deutschen Diskurs kritisch zu hinterfragen.

Die Exklusivität des Begriffs „Existenzrecht“ für den israelischen Kontext offenbart den eigentlichen Zweck, der hinter dem Diskurs steckt. Die Diskussion wird geführt, um zwischen Freund oder Feind zu unterscheiden: Die eigene Positionierung zu Israel soll verabsolutiert werden, um sich selbst mittels Tabuisierung bzw. Delegitimierung der Gegenseite die Meinungshoheit zu verschaffen.

3. Zu den Kräfteverhältnissen im Nahen Osten und wie sie die Kämpfe prägen

Israel ist der Hegemon in der Region. Neben einem gigantischen Waffenarsenal, das auch nukleare Sprengsätze umfasst, bestehen die Israel Defence Forces (IDF) aus 170.000 Berufssoldat:innen und 465.000 Reservist:innen. Des Weiteren gilt in Israel die Wehrpflicht, weshalb die IDF potenziell Zugriff auf zusätzlich circa 3 Millionen wehrtaugliche Menschen hat. Unantastbar wird Israels regionale Hegemonie durch ein Bündnis als Juniorpartner der USA, die nicht nur die Garantin für Israels geopolitische Vormachtstellung sind, sondern fast seit Anbeginn des zionistischen Staatenprojekts Israel protegiert, „mitaufgebaut“ und somit im erheblichen Maße die Region nach amerikanischer Interessen geformt hat. 

Die Hamas (hier stellvertretend als mächtigste militante palästinensische Organisation nationaler Befreiung), die auf Israels Staatsterritorium Anspruch erhebt, findet in den vorhergenannten machtvollen Tatsachen ihre Hürde, die sie aus ihren eigenen Machtmitteln heraus nicht mal im Ansatz nehmen kann. Im ökonomischen Vergleich erscheint Gaza zwergenhaft: keine Kontrolle über Einfuhr und Ausfuhr von Material und Mensch, Wasser, die Energiezufuhr wird von Israel kontrolliert und alle palästinensischen Autonomiegebiete zusammen kommen auf ein BIP von 19 Milliarden US-Dollar. Die einzigen Machtmittel, über die die Hamas als Organisation selbstbestimmt entscheiden kann, sind ihre in Relation mickrigen militärischen Kapazitäten. Diese wirft sie hin und wieder in die Waagschale, nicht um Land gut zu machen, sondern um die Ansprüche des Staates Israel (die keinesfalls Spezifika darstellen) auf das Gewaltmonopol, territoriale Integrität und Schutz der eigenen Staatsbürger:innen zu negieren und im gleichen Zuge ihren Führungsanspruch im Gaza-Streifen und allgemein innerhalb der palästinensischen Widerstandsbewegung klarzumachen. Die seit Jahren immer wiederkehrenden Raketenangriffe oder der Angriff des 7. Oktobers sind Ausdruck dessen.

3. These: Der israelisch-palästinensische Antagonismus, der so häufig in blutigen Auseinandersetzung seine Höhepunkte gefunden hat, ist Ergebnis 1. der allgemeinen globalgültigen Prinzipien des sich-herausbildenden und existenten Staates, 2. des konkreten Verhältnisses zwischen der weitüberlegenen Regionalmacht Israel und seines anliegenden unterworfenen Unstaates Palästina, bei dem ersterer die Schlinge je nach Bedarf weiter oder enger ziehen kann, und 3. der imperialistischen Unterstützung und Nutzung der geopolitischen Lage Israels und Palästinas.

4. Zur Ambivalenz des zionistischen Staatsprojektes

I. Die israelische Staatsbildung ist ohne die jahrhundertealte Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung von Jüdinnen:Juden in Form des Antijudaismus und später des Antisemitismus nicht zu verstehen. Dabei war die Shoah als präzedenzlose Zuspitzung von faschistischem Vernichtungswahn zwar nicht der Ausgangspunkt der zionistischen Bewegung, gleichzeitig stellten aber die zionistischen Siedlungen im britischen Mandatsgebiet Palästina für viele europäische Jüdinnen:Juden einen Zufluchtsort vor dem in Europa grassierenden Judenhass dar. Dieser traurige Umstand zeigte sich nicht zuletzt an der Unwilligkeit fast aller Staaten, Jüdinnen:Juden in den 30er und 40er Jahren aufzunehmen. Der Zionismus war jedoch als Versuch der nationalen Emanzipation von Jüdinnen:Juden neben den Bundist:innen, der Palästinensischen Kommunistischen Partei uvm. nur ein politischer Ansatz der jüdischen Emanzipation nationaler oder kultureller Form. Die zionistische Ideologie, die ihren Ursprung am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa hatte, vertrat im Gegensatz zu den oben genannten politischen Strömungen und vor dem Hintergrund der gescheiterten Assimilationsversuche in Europa den Standpunkt, die sog. „Judenfrage“ durch eine jüdische (National-)Staatsbildung zu lösen, wobei diese Vorstellung – auch im sozialistischen Flügel des Zionismus (bspw. Poale Zion) mit Ausnahme von Ber Borochov – mit einem ethnischen Exklusivitätsanspruch einherging. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Zionismus als Ende der jüdischen Aufklärung und damit als Teil der europäischen Aufklärung nicht von anderen Nationalismen, insofern die aufkommenden Nationalbewegungen und Nationalstaatsgründungen ihr Staatsvolk anhand spezifischer Merkmale einschlossen und durch Zwangsmaßnahmen hervorbrachten. Dass die meisten Staatsgründungen mit (Bürger:innen-)Kriegen einhergingen und -gehen, ist selbst Ausdruck der Selbstbehauptung der vermeintlichen Nation und der in ihrem Interesse gesetzten Staatsgründung. In der Praxis kaufte die World Zionist Organization, unterstützt von ihren eigens für die Kolonisierung eingerichteten Finanzinstitutionen des Jüdischen Nationalfonds und der Jüdischen Kolonialbank, Land von arabischen Großgrundbesitzern auf, um darauf, unter Ausschluss der arabischen Bevölkerung(en), eine rein jüdische Gesellschaft aufzubauen. Diese Politik war selbst jedoch das Ende einer Entwicklung, die bereits in den 60er und 70er des 19. Jahrhunderts durch die Chabbat-Zion-Bewegung, der Jewish Colonization Assoziation, deren Grundstücke 1957/58 an den israelischen Staat übergeben wurden, und der Alliance Israélite Universelle losgetreten wurden.

II. Die Klassifizierung des zionistischen Projektes als Kolonialismus ist widersprüchlich: Eine begriffliche Gleichstellung des europäischen Kolonialismus mit dem zionistischen Siedlerkolonialismus ist zu oberflächlich. So existierte kein Mutterland, von dem ausgehend eine Kolonisierung zwecks Extraktion von Mehrwert durch Ausbeutung von Natur und Mensch für das Mutterland gesteuert werden konnte. Dennoch wies das zionistische Projekt seit seiner politischen Gründung, wie oben angeschnitten, siedlerkolonialistische Praktiken auf, die nicht darin bestehen, das kolonisierte Land für das Mutterland auszubeuten, sondern die einheimische Bevölkerung zur Ansiedlung der eigenen Bevölkerung zu vertreiben oder auszulöschen. Dabei ist das zionistische Projekt kein absoluter Präzedenzfall. Während einerseits oft das Argument vorgeführt wird, dass es sich bei den zionistischen Siedler:innen um Verfolgte handelte, wird vollkommen ausgelassen, dass einige Kolonialisierungen Aussiedlung und Vertreibung von diskriminierten Gruppen als Ausgangspunkt hatten. Dies gilt für Lateinamerika, wohin Teile der sephardischen Juden im Zuge der Reconquista flüchteten, wie auch für die britischen Kolonien, die bekanntermaßen durch die in Europa religiös verfolgten Pilgrim Fathers gegründet wurden. Dass diese Gruppen trotz Diskriminierung den europäischen Chauvinismus in zu erobernde Gebiete gebracht haben, erscheint vor der darauffolgenden historischen Entwicklung auf allen Kontinenten offensichtlich. Diese Beispiele spiegeln einen klassischen Kolonialismus mithilfe siedlerkolonialistischer Praktiken wider. Andererseits bemächtigten sich insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika einer anderen Form des Kolonialismus, der dem zionistischen Kontext ähnelt: Die imperialistische Gründung von Staaten ohne direkte ökonomische Interessen. Diese Politik zeigte sich am deutlichsten am Beispiel Liberias, das von den USA durch die American Colonization Society gegründet wurde, um freie Afro-Amerikaner:innen zur Zeit der Sklaverei als subversive Elemente umzusiedeln. Nach einer 40-jährigen Ansiedlung erfolgte 1862 die Unabhängigkeitserklärung Liberias, wobei Liberia bis heute ein Vorhof des US-Imperialismus in Afrika ist. Es zeigt sich also, dass auf der einen Seite die Einordnung der zionistischen Besiedlung als Siedlerkolonialismus keinesfalls eine Gleichsetzung mit dem Kolonialismus bedeutet, während auf der anderen Seite mit Blick auf die Zusammenarbeit mit dem Osmanischen Reich, Großbritannien, Frankreich, den USA und insbesondere der Sowjetunion das zionistische Projekt ohne die imperialistische Unterstützung nicht hätte zustande kommen können.

III. Durch den „Israelischen Unabhängigkeitskrieg“, der damit zusammenhängenden Konsolidierung des modernen Staates Israel sowie die Vertreibung und Ermordung eines Teils der palästinensischen Bevölkerung änderte sich das Kräfteverhältnis zwischen der israelischen und palästinensischen Bevölkerung substantiell. Es konzentriert sich eine große Anzahl an Palästinenser:innen in der West Bank und dem Gaza-Streifen, aus denen 1994 mit dem Gaza-Jericho-Abkommen das unmündige politische Konstrukt der Palästinenischen Autonomiebehörde entstand. Der Siedlungskolonialismus Ende des 20. Jahrhunderts findet, trotz vergleichbarer Elemente im Hinblick auf die ersten Siedlungen im 19. Jahrhundert, unter anderen Vorzeichen statt. Der israelische Staat fördert Siedler:innen, die unter Sicherheitsgarantien in der West Bank Stück für Stück palästinensische Ortschaften belagern, Palästinenser:innen verdrängen, drangsalieren und töten. Die Bewegungsfreiheit in den beiden Landfetzen ist nicht nur gering, jegliche Grenzabschnitte werden überwacht.

IV. Als eine politische Form von vielen politischen Formen der jüdischen Emanzipation bedient sich der Zionismus einer im Diskurs allgegenwärtigen Illusion seiner Existenz. Denn als explizit jüdischer Staat beansprucht Israel alle Jüdinnen:Juden auf der Welt als sein Staatsvolk, ob nicht-israelische Jüdinnen:Juden dem zustimmen wollen oder nicht. Insofern Israel sich als Staat aller Jüdinnen:Juden versteht, kann auch jede Kritik, die an seiner Existenzgrundlage als rein jüdischer Staat unter Ausschluss der vertriebenen palästinensischen Bevölkerung ansetzt als Antisemitismus bzw. als gegen alle Jüdinnen:Juden gerichteter Hass diffamiert werden. Das Paradoxe ist daran, dass die offensichtlich antisemitische Gleichsetzung von Jüdinnen:Juden mit Israel als israelbezogener Antisemitismus selbst integraler Bestandteil des israelischen Staatsverständnisses ist. Somit kann der Kampf gegen Antisemitismus nicht die bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel bedeuten. 

4. These: Die Gründung des Staats Israel kann nicht ohne die jahrhundertealte Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung von Jüdinnen:Juden verstanden werden. Dass ein Staatsprojekt Zufluchtsort und Kolonisator zugleich sein kann, ist kein Widerspruch. Der Zionismus hatte die jüdische Staatsgründung als Lösung der „Judenfrage“ vor Augen – mit siedlerkolonialistischen Praktiken als Mittel der Wahl. Mit der Gründung von zionistischen Siedlungen wurde auch (europäischer) Chauvinismus und Rassismus importiert. Die siedlerkolonialistischen Praktiken stellen dabei eine Kontinuität in Israels Geschichte dar, jedoch unter veränderten Vorzeichen – mit der endgültigen Konsolidierung des Staats Israel durch den „Israelischen Unabhängigkeitskrieg“ war der Sprung vom Siedlungsprojekt zur Nation geschafft. Siedlerkolonialismus war nun eine Praxis, die sich auf Israel als Schutzmacht beziehen konnte und sich sukzessive palästinensisches Territorium einverleibt. Den Kampf gegen Antisemitismus mit der Affirmation Israels gleichzusetzen, stellt eine Kapitulation vor der Prämisse „jedem Völkchen sein Ländchen“ dar, in der die einzige Lösung für jegliche Form von Menschenhass die Unterordnung unter einen staatlichen Souverän ist, der Ansprüche auf Land und Leute erhebt.

5. Zur Frage der Befreiung

Einen Ausweg aus der Misere kann nur ein Befreiungsprojekt bieten, welches auf die Gleichstellung der gesamten Bevölkerung abzielt und die freie und sichere Entfaltung aller ermöglicht. Dieses Ziel kann nur durch eine sozialistische Gesellschaftsform umgesetzt werden, die Nationalismus hinter sich lässt. Ein binationaler, bürgerlicher Staat als politische Befreiung kommt für eine Beendigung der rassifizierten Herrschaft über die Palästinenser:innen nicht infrage, da ein Erhalt der unterschiedlichen ökonomischen Sphären und Sektoren die existierenden, rassifizierten Produktionsverhältnisse unangetastet lassen würde. 

Deshalb bedarf es zur Befreiung der revolutionären Überwindung der Klassenverhältnisse im gesamten israelisch-palästinensischen Hoheitsgebiet, auch wenngleich sich die Dringlichkeit für den palästinensischen Bevölkerungsteil aufgrund der katastrophalen Lage in Gaza und in der Westbank ungleich größer darstellt. In dem Sinne sind der israelische Staat und die Hamas zwei Seiten der gleichen Medaille: Beide Parteien beanspruchen die Vorherrschaft über das Territorium „from the river to the sea“ und möchten auf diesem Gebiet ihre bürgerliche Herrschaft über ihr Staatsvolk geltend machen – mit dem gravierenden Unterschied, dass die eine Partei über die Macht verfügt, ihren Anspruch durchzusetzen, und die andere nicht.

Bürgerliche Nationalstaaten haben nun verschiedene Möglichkeiten mit unliebsamen Nicht-Bürger:innen umzugehen, für die sie keinen Nutzen finden können: Zum Beispiel die Abschiebung in das „Herkunftsland“. Im Falle des Nahostkonflikts befinden sich die Bewohner:innen des Gaza-Streifens nicht auf offiziellem israelischen Staatsgebiet und es gibt kein Land, in das Palästinenser:innen abgeschoben werden können. Die Konsequenz ist ein brutales militärisches Vorgehen der IDF, das ein eindeutiges Zeichen setzt: Wer nicht flieht, läuft Gefahr getötet zu werden! Im Gegenzug macht die Hamas mit Operationen wie am 7. Oktober klar, dass bei ihrem Befreiungskampf der israelische Staat und israelische Staatsbürger:innen ein und dasselbe sind. Es gibt dabei keine Aussicht auf einen verbindenden Klassenkampf – beide Seiten beanspruchen jeweils die Vorherrschaft über die andere. 

5. These: Die Identifizierung aller israelischen Staatsbürger:innen mit dem Staat Israel und seiner Geschichte kann nicht Teil eines emanzipatorischen Befreiungskampfs der Palästinenser:innen sein. Die Lehre aus dem Verbrechen der Nakba kann nicht beinhalten, dass Menschen aufgrund ihrer israelischen Staatsangehörigkeit vertrieben werden. Befreiungskämpfe im Allgemeinen dürfen nicht zum Austragungsort von niederen Gefühlen und Ressentiments verkommen, bei dem die Verdammten dieser Erde selbst zu Unterdrückenden werden.

6. Zur Crux des Befreiungsnationalismus

Das Ende des realsozialistischen Versuchs hat progressive befreiungsnationalistische Bewegungen in eine grundsätzliche Problemlage geführt. Der vorläufige „Sieg“ des Westens und die Umstrukturierungsprozesse der Weltordnung waren eine historische Zäsur für die globale Linke. Dennoch wog der Niedergang der „sozialistischen Welt“ für antikoloniale Befreiungsbewegungen im Globalen Süden schwerer. Denn während ein Großteil der westlichen Linken zu dem Zeitpunkt bereits in die politische Bedeutungslosigkeit versunken oder vom politischen Tagesgeschäft absorbiert und gezähmt worden war, verloren die Antikolonialen Befreiungsbewegungen der 1990er Jahre eine grundlegende Stütze ihrer Kämpfe. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fiel auch das Versprechen eines nationalen und sozial-progressiven Entwicklungsmodells weg. Mit dem Scheitern dieser Form der Entwicklung von Wohlstand für die Peripherie des Kapitalismus starb jedoch nicht der Glaube an dieses Modell. Die Vorstellung eines nationalen Entwicklungsweges innerhalb eines Weltsystems, das notwendigerweise in imperialistisches Zentrum, (unter-)entwickelte Semiperipherie und unterentwickelte Peripherie organisiert ist, ist dabei verheerenderweise weiterhin einem Antiimperialismus bürgerlicher bzw. sowjetmarxistischer Art verpflichtet, insofern Staaten anhand ihrer antagonistischen Positionierung gegenüber dem US-Imperialismus als fortschrittliche antiimperialistische Kräfte verstanden werden. 

Dass diese Staaten jedoch oft nur ein Interesse an der Befreiung vom westlichen Imperialismus zur nationalen Entwicklung haben, zeigt, dass die Vertreter:innen dieser Forderung weder den Inhalt des Kapitalismus als Weltsystem noch den westlichen Imperialismus als Charaktermaske bzw. Produkt der kapitalistischen Staatenkonkurrenz begriffen haben.

Insbesondere Revolutionär:innen dürfen sich nicht von politischen Formen vermeintlicher Befreiung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft täuschen lassen: Die Staatssetzung geht immer einher mit der Einhegung in den Weltmarkt, der Übernahme der kapitalistischen Produktionsweise und damit zwangsläufig auch mit all ihren Zwängen und sozialen Phänomenen. Auch kann eine langfristige Lösung für Jüdinnen:Juden und Palästinenser:innen, mit Blick auf die zum Teil rassistischen Verfallsprozesse der ehemaligen realsozialistischen und postkolonialen Staaten, nicht nur auf nationaler Ebene gedacht, sondern muss – insbesondere in Anbetracht der gescheiterten Emanzipationsversuche im Realsozialismus und im Globalen Süden – international, kooperativ und damit kommunistisch verstanden werden.

Während der Niedergang der „sozialistischen Welt“ den Niedergang linker antikolonialer Organisationen nach sich zog, schliefen Imperialismus, Ausbeutung und der Wille in irgendeiner Form dagegen anzugehen natürlich nicht. Es kristallisierte sich ein Wandel antikolonialer Kämpfe heraus, die sich entweder des Sozialistischen im Linksnationalismus entledigten (wie bspw. mit den verschiedenen Baath-Bewegungen) oder es behaupteten sich neue ideologische Kombinationen wie z.B. unterschiedliche islamistische Ideologien. Im Zuge der imperialistischen Umstrukturierungsprozesse strebten die bürgerlichen Nachfolgestaaten die Zusammenarbeit mit regionalen und imperialistischen Akteuren an, um ihre nationalen Interessen innerhalb der Staatenkonkurrenz durchzusetzen.
Dass diesen Akteuren eine Überwindung der Kapitalismus als Überwindung der Staatenkonkurrenz nicht im Sinn ist, kann ihnen vor dem Hintergrund der Geschichte und der allgegenwärtigen Ohnmacht der Linken nicht verübelt werden, muss jedoch als das, was es ist, erkannt werden: Als Versuch der Selbstbehauptung in und Zementierung der internationalen Konkurrenz. Diese Neuformierung von Organisationen, die gegen westlichen Imperialismus kämpfen, stellt die antiimperialistische Linke vor die Frage, was Internationalismus und nationale Befreiung im Anschluss an die historischen sozialistischen und antikolonialen Versuche heute bedeuten.

6.1. Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen

Revolutionär:innen rund um die Welt müssen dabei neue Antworten geben: Was bedeutet in theoretischer und praktischer Hinsicht das Scheitern des Realsozialismus und der nationalen Befreiungsbewegungen? Inwiefern ist Befreiungsnationalismus noch ein sinnvolles Vehikel zur Organisierung von Kämpfen, um unser Ziel einer kommunistischen Gesellschaft zu erreichen? 

Zu welchen politischen Bedingungen können nationale Befreiungsstrategien lohnenswert sein, wo liegen ihre Grenzen und Gefahren und welche Alternativen gibt es in antikolonialen/antiimperialistischen Kämpfen? Welche politischen Praktiken des Internationalismus haben sich bewährt, welche müssen fallen gelassen werden? Was sind die Widersprüche, in denen sich Internationalismus im Rahmen einer internationalen Staatenordnung bewegt? Wie gehen wir mit nationalen Befreiungsbewegungen um, die von politisch reaktionären Kräften angeführt werden? Welche Formen der Solidarität gibt es abseits von performativen Akten? Was bedeutet internationalistische Praxis für uns im imperialistischen Zentrum?

Auf die letzte Frage können wir Antworten: Unsere Aufgabe ist es, die proletarische Seite im Klassenkampf aufzubauen, die kommunistische Bewegung zu stärken und dem eigenen Imperialismus praktisch in den Rücken zu fallen.

In Deutschland muss bei diesen Forderungen der NATO-Imperialismus, und die in ihn eingebettete BRD, der erste Adressat von Kritik und Widerstand sein. Im aktuellen Geschehen müssen internationalistische Linke eine Position einnehmen, die einen sofortigen Waffenstillstand und Waffenexportstopp an Israel fordert, um massenhaftes Morden und Vertreiben zu verhindern, das im Moment stattfindet und bereits über 30.000 Menschen das Leben gekostet hat; eine ethnische Säuberung, die von der BRD diskursiv und politisch gedeckt sowie mit Waffen unterstützt wird.

Literaturverzeichnis und -empfehlungen

Literaturverzeichnis

Asseburg, M./Busse, J. (2016). Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven. 5. Auflage, München: C.H. Beck.

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GegenStandpunkt. (2023). „Al-Aqsa-Flut“ und Gaza-Krieg: Hamas gegen Israel. In: GegenStandpunkt, 4-23. URL: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/al-aqsa-flut-gaza-krieg-hamas-gegen-israel

Herzl, T. (1896). Der Judenstaat. URL: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Judenstaat

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Krämer, G. (2015). Geschichte Palästinas. 6. Auflage, München: CH Beck.

Lehr, F. (2023). Angriff auf Israel antikolonialer Befreiungskampf oder Massenmord? [Video]. YouTube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=lCarlRpVoLc

Lehr, F. (2024). „Alle Israelis sind SiedlerInnen“? [Video]. YouTube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=r2ENRNMg1sM

Timm, A. (2021). Wider den Strom! Die zionistische Linke: Europäische Wurzeln und israelische Gegenwart. In: Riccardo Altiero, Bernd Hüttner/Florian Weis (Hrsg.): „Die Jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen“: Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 1). Berlin: Rosa- Luxemburg-Stiftung, S. 27–38, URL: https://www.rosalux.de/publikation/id/45015/die-juedische-mit-der-allgemeinen-proletarischen-bewegung-zu-vereinen

Wallerstein, I. (1990).  Marx, der Marxismus-Leninismus und sozialistische Erfahrungen im modernen Weltsystem. In: PROKLA: Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 20 (78), S. 126–137. https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/1213


Weitere Literaturempfehlungen

Croitoru, J. (2024). Hamas: Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel. München: CH Beck.

Segev, T. (2005). Es war einmal in Palästina: Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. München: Pantheon. 

Segev, T. (2007). 1967. Israels zweite Geburt. München: Pantheon. 

Pappé, I. (2022). A history of Modern Palestine. 3. Auflage, Cambridge: University Press.

Pappé, I. (2024). Die ethnische Säuberung Palästinas. 4. Auflage, Frankfurt a. M.: Westend Verlag.

Pappé, I. (2024). Die Konsolidierung der erweiterten Republik Israel und der Gazastreifen. In: Z. Zeitschrift für Marxistische Erneuerung, 137, S. 89–100.

Zimmermann, M./Zuckermann, M. (2023). Denk ich an Deutschland… Ein Dialog in Israel. Frankfurt a. M.: Westend Verlag. 

Zuckermann, M. (2024). Der Zionismus ist in einer Sackgasse gelandet. In: Z. Zeitschrift für Marxistische Erneuerung, 137, S. 82–88.

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