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Aurora: Es liegt zwar nahezu auf der Hand, dennoch finden wir es wichtig an dieser Stelle auch auf das Thema „Gender“ einzugehen. Denn es ist nach wie vor v.a. feministische und queere Forschung, die sich mit den verschiedenen Aspekten von Sorge-Arbeit beschäftigt. Das scheint auch nachvollziehbar, sind es doch v.a. FLINTAs, die den Hauptteil dieser Verantwortung sowohl im Privaten als auch im Lohnarbeitsbereich übernehmen. Ist Verantwortungsübernahme für Mitmenschen und somit Care-Arbeit also eine Frage von Gender?
Sabrina Schmitt: Die Übernahme von bezahlter wie unbezahlter Care Arbeit von überwiegend FLINTA Personen liegt in der Konstruktion von Weiblichkeit begründet, d.h. zum einen darin, dass wir ein Bild von Weiblichkeit haben, in dem Frauen oder weiblich gelesenen Personen zugeschrieben wird, dass sie für Care Arbeit besser geeignet sind. Das heißt, wir haben ein Verständnis von Weiblichkeit, das assoziiert wird mit Emotionalität, kommunikativem Austausch, Empathie und der Orientierung weiblicher Bedürfnisse an anderen. Und diese Assoziation von Weiblichkeit mit diesen Eigenschaften, die eben auch zentral für Care Arbeit sind, die führt dazu, dass sich FLINTAs im Aufwachsen, wie im Erwachsenenleben tendenziell zuständiger fühlen für Care Arbeit. Das heißt, wir haben auf der einen Ebene Geschlechterkonstruktionen, die eine bestimmte Verantwortungsübernahme nahelegen und es so erscheinen lassen, als sei es das Sinnvollere, weil die Eignung vermeintlich qua Geschlecht eine bessere für Care Arbeit sei.
Ich nehme als Beispiel einmal den Mutterinstinkt, weil es sehr eindrücklich ist. Wir haben also eine Idee von einer Person, die ein Kind auf die Welt bringt und die aufgrund ihres Geschlechts, also aufgrund der Tatsache, dass sie eine Vulva und ein bestimmtes Hormon-Setup hat, in irgendeiner Weise instinktiv zu wissen scheint, was ihr Kind braucht. Wir schreiben dies nicht der Tatsache zu, dass es vor allem Mütter sind, die sich eben sehr früh, sehr ausgiebig mit dem Kind beschäftigen, weil sie viel zu Hause sind. Wir schreiben es der Tatsache zu, dass sie vermeintlich biologisch dafür aufgesetzt sind. Und das ist schlichtweg empirisch nicht der Fall. Es ist nicht so, dass ich, nur weil ich ein Kind gebäre, spezifische Antennen entwickle, um dieses Kind zu versorgen. Sondern es geht hier ganz klar um eine Idee, die besagt, es gäbe qua Geschlecht eine wie auch immer geartete besondere Sensibilität für die Anforderungen von einem schreienden Säugling.
Diese (Selbst-)Zuschreibung einer gewissen fast schon spirituellen Fähigkeit von Frauen und Müttern, sich in ihre Kinder hineinversetzen zu können, ist unheimlich wirkmächtig. Wir vollziehen diese Zuschreibung immer wieder und reproduzieren damit also immer wieder das Narrativ, es gäbe eine geschlechtsspezifische Eignung von bestimmten Personen, sich um bspw. Kinder zu kümmern. Das entspricht empirisch nicht der Realität.
Hier zeigt sich jedoch in besonderer Weise, wie sich diese Zuschreibung auch auf den Lohnarbeits-Sektor ausweitet, denn diese Verschränkung von Geschlecht und Care-Arbeit haben wir im bezahlten, wie auch unbezahlten Bereich. Es gibt Studien zur Berufswahl von jungen Menschen, die eine klare Aufteilung zwischen den Geschlechtern und den jeweils gewählten beruflichen Tätigkeitsfeldern darlegt. So neigen weiblich gelesene Personen tendenziell eher zu care-orientierten Berufen und männlich gelesene eher zu technischen Berufen. Dabei wird angenommen, dass weiblich gelesen Personen diese Wahl auch treffen, weil sie annehmen, dass Pflege-Berufe Fähigkeiten erfordern, die ihnen nahezu “natürlich” lägen. Dass FLINTAs diese Anforderungen jedoch nicht qua Geschlecht besser erfüllen, sondern weil sie dazu sozialisiert wurden, hängt stark mit diesen Weiblichkeitskonstruktionen und dieser Idee der “sorgenden Frau” zusammen.
Diese Idee hat jedoch eine folgenschwere Konsequenz: Denn wenn FLINTAs qua Geschlecht besser für Care-Arbeit geeignet sind, wird diese “Eignung” im Umkehrschluss der Idee von Männlichkeit abgesprochen. Nehmen wir ein Beispiel aus der frühkindlichen Pädagogik. Es ist vielfach üblich, dass männliche Fachkräfte aufgrund von abstrakt-generellen Bedenken der Eltern nicht wickeln. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Sorgetätigkeit nicht nur nicht mit allgemeinen Männlichkeitskonstruktionen in Einklang gebracht werden kann, sondern dass das Ausüben von gewissen Sorgetätigkeiten durch Männer in gewissen Kontexten sogar als potentielle Gefahr für Kinder gedeutet wird. Daran wird sehr deutlich, wie wirkmächtig die Verknüpfung von Care-Arbeit mit Weiblichkeit auch umgedreht ist, weil Sorge-Arbeit Männern – ebenfalls qua ihres Geschlechts – nicht zugetraut oder als unvereinbar mit Männlichkeit wahrgenommen wird. Fürsorge, Empathie, Verantwortungsübernahme – auch für das Wohlsein der Menschen um uns rum – wird also mit Männlichkeitskonstruktionen nicht verknüpft. Das heißt, auf der Ebene haben wir eine Verantwortungsübernahme von FLINTA-Personen, weil ihnen eine gewisse Befähigung dazu zugeschrieben wird.
Parallel zu diesen Geschlechterkonstruktionen und ihrem Einfluss auf unserer Sozialisation haben wir eben auch eine Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt, also eine in dieser Konstruktion begründet liegende unterschiedliche Arbeitsmarktpartizipation. Wir haben also zum einen FLINTA, die innerhalb sogenannter SAHGE-Berufen (Soziale Arbeit, Haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Pflege sowie Erziehung und Bildungsarbeiten) die Mehrheit darstellen, also in einem Arbeitsfeld, das zwar eine relativ hohe Burnout-Rate hat, jedoch zeitgleich gut mit einer Teilzeit-Beschäftigung in Einklang gebracht werden kann, sollte eine private Sorgeverantwortung hinzukommen. Und wir haben natürlich einen Gender Pay Gap, also eine geschlechtsspezifische Lohnlücke, die sich auch aus dieser Zuschreibung ergibt, die auch dafür sorgt, dass Personen weniger verdienen und dann auch eher zum Beispiel mal zu Hause bleiben.
Wenn es zum Beispiel keinen Kitaplatz gibt, dann entscheidet häufig die Frage, wer am meisten Geld nach Hause bringt, darüber, wer zuhause die Kinder versorgt. Und wenn eine Person in einem sogenannten sozialen Bereich arbeitet und deswegen weniger verdient oder ohnehin in Teilzeit arbeitet, dann wird auch eher mal entschieden: Na, dann bleibst du noch das Extrajahr zu Hause, weil dein Einkommen niedriger ist. Das nennt man dann Opportunitätskosten, es kostet uns als Familie quasi weniger, wenn wir dein Einkommen verlieren. Und das führt dann mit zur strukturellen Benachteiligung.
Hier geht es nicht nur um individuelle Entscheidungen, die quasi auf dieser Geschlechterkonstruktion fußen, sondern auch um eine strukturelle Benachteiligung, natürlich von FLINTA, die dann auch dazu führt, dass sie eher die unbezahlte familiale Carearbeit in der sogenannten privaten Sphäre übernehmen. Dass liegt auch daran, dass der Arbeitsmarkt oder die Teilhabe an diesem und die finanzielle Teilhabe für sie sowieso eingeschränkt sind, auch aufgrund dieser Zuschreibung, dass sie eben mehr Care-Arbeit übernehmen.
Um es noch einmal abschließend zusammenzufassen: die Verantwortungsübernahme für Mitmenschen und somit Care-Arbeit, hat mit Gender zu tun. Gender, die Geschlechterkonstruktionen und die daran geknüpften Zuschreibungen, dass Frauen vermeintlich besser und mehr Care leisten können usw., sind dafür konstitutiv. Also bedingt diese Verteilung von Carearbeit auch die Abwertung von männlicher Sorgearbeit. Dies ist zentral für die Verteilung von Carearbeit in der Gesellschaft. Ja, zwischen, sagen wir mal, Männern und Frauen, aber eben auch gesamtgesellschaftlich, über alle Geschlechtsidentitäten hinweg.
Aurora: Als dezidiert anti-kapitalistische Gruppe interessieren wir uns natürlich vor allem für den ökonomischen Aspekt von (meist stark feminisierter) Care-Arbeit, den wir unter anderem in einer zunehmenden Individualisierungstendenz von Care-Verantwortung verorten. (Auch wenn es offiziell ein Anrecht auf Kita-Plätze gibt, wissen wir, dass die Realität für junge Eltern oft anders aussieht. Mit der Pflege älterer Angehöriger verhält es sich – wie Sie wahrscheinlich noch viel besser wissen – ähnlich.) Oft sind wir gezwungen, individuelle Lösungen für die uns übertragene oder zukommende Care-Verantwortung zu finden, weil es für diese Lebenslagen kaum gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze gibt. Insbesondere in der feministischen Forschung rund um „Care“ finden sich diese Ansätze jedoch durchaus. Liegt es also an der Marginalisierung feministischer Forschung oder eher an den langsam mahlenden Rädern der deutschen Bürokratie, dass diese Lösungsansätze politisch bisher kaum umgesetzt werden?
Sabrina Schmitt: Also erstmal glaube ich, dass es an keinem von beiden liegt. Ich würde nicht die Einschätzung teilen, dass feministische Forschung grundsätzlich im gesellschaftlichen Diskurs marginalisiert ist. Allerdings gelangen viele spannende Perspektiven feministischer Forschung nicht so richtig in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Aber das Thema Care hat aus meiner Sicht schon Konjunktur, also die Care-Arbeit und damit assoziierte Begriffe, wie “mental load”. All dies findet sich sowohl in Zeitschriften, aber auch z.B. auf Instagram, durchaus mit einer sehr klugen Einordnung von Problemen und den Geschlechterzuschreibungen, die ich vorher erläutert habe. Ich würde also gar nicht unbedingt denken, dass das marginalisiert wird, auch nicht die Forschungsdaten dazu. Wir sprechen ja gerade auch im Rahmen des Equal Care Days über Care-Arbeit.
Ich denke, das wird gut rezipiert und kommt auch sehr gut in den gesellschaftlichen Diskurs. Das ist, denke ich, der Teil von feministischer Forschung, der am anschlussfähigsten an gesellschaftliche Debatten ist. Und ich würde auch behaupten, dass viele Leute in der Politik einen Begriff von Care haben, und der Begriff eigentlich relativ klar ist. Dazu wird auch einiges aktivistisch umgesetzt.
Ein Beispiel ist eben die (wie ich finde höchst problematische) Debatte um die Deckelung des Elterngeldes für Paare mit einem gemeinsamen Einkommen über 150.000 Euro. Auf diesen Vorschlag hin wurde ein vielfach unterschriebene Petition von einer Unternehmerin initiiert, die sich gegen diese Deckelung aussprach und argumentierte, dass so gleichstellungspolitische Effekte des Elterngeldes für diese Paar minimiert würden. An dieser Debatte merkt man sehr deutlich, dass die Geschlechterdebatte und Care breit diskutiert werden und auch versucht wird, politisch Einfluss zu nehmen. Aber es wird eben auch deutlich, dass häufig nur die Forderungen nach gerechter Verteilung von Care-Arbeit Relevanz erfahren, von denen Familien oder Frauen mit hohem Einkommen profitieren.
Das Problem ist eben, dass gerade das umgesetzt und aufgenommen wird, was in einem kapitalistisch organisierten Wohlfahrtsstaat von Interesse ist. Das heißt, es ist durchaus auch im Interesse kapitalistischer Verwertungslogik, Care ernst zu nehmen. Zum Beispiel wird die unbezahlte Care Arbeit ernstgenommen, im Sinne von “wir wollen, dass möglichst viele erwachsene Menschen am Arbeitsmarkt maximal verfügbar, möglichst flexibel und immer verwertbar sind.” Dann macht es natürlich Sinn zu sagen: “Oh, wir wollen aber auch Care Arbeit, denn wir brauchen ja die Kinder, um die sich gekümmert wird. Irgendjemand muss sich ja auch um die Kranken zu Hause kümmern”.
Aus dieser kapitalistisch organisierten Logik heraus, macht es auch total Sinn zu sagen: “Wir wollen Care Arbeit wertschätzen und wir wollen euch zum Beispiel einen Betriebskindergarten anbieten, damit ihr viel, gut und möglichst lange verfügbar seid und euer Kind dabei gut versorgt wisst.”
Bestimmte Perspektiven auf die Care Arbeit und vor allem die Kinderbetreuung von hauptsächlich akademisierten Personen sind von besonderem Interesse für die Verwertung im Kapitalismus. Diese Care Bedarfe werden meiner Meinung nach nicht marginalisiert, sondern es ist eigentlich so, dass für deren Bedarfe politisch sehr viel umgesetzt wird.
Sie haben ja auch den Kitaanspruch erwähnt. Also es werden ja Dinge umgesetzt, das Problem ist aber, dass nur das umgesetzt wird, was der Employability, also der Beschäftigungsfähigkeit, dient. In einem Wohlfahrtsstaat, der wie das deutsche konservative Wohlfahrtsstaatsmodell vor allem am Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit orientiert ist, schaffen es bestimmte politische Debatten zu Care also sehr wohl in die politische Umsetzung.
Aber an den grundlegenden Fragen gibt es kein Interesse, wie: Was ist denn ein gutes Leben für alle, für Care aus einer Perspektive? Wie können wir gutes Leben für alle gestalten, das für alle gut gesorgt ist und auch alle gut sorgen können? Wie können wir das aus einer Perspektive von Geschlechtergerechtigkeit herstellen?
Das heißt, Care wird nur behandelt, solange es der kapitalistischen Wohlfahrtsstaatsorganisation nutzt und es möglichst vielen Leuten Arbeitsmarktpartizipation ermöglicht. Dann werden eben auch Gesetzesvorgaben wie der Anspruch auf einen Kitaplatz paradigmatisch: da geht es darum, möglichst früh die Arbeitsmarktpartizipation wiederherzustellen. Natürlich geht es, so ganz nebenbei, auch um die Kinder. Aber in erster Linie geht es um die Erwachsenen und deren Arbeitsmarktpartizipation.
Beim Elterngeld ist es genau das Gleiche. Die Frage bei solchen Petitonen oder sozialpolitischen Instrumenten ist nicht: Wie können Kinder gut aufwachsen, was brauchen die? Wie können sich Eltern gut kümmern oder wie kann sich die Wahlfamilie gut kümmern? Die Frage ist nur, überspitzt gesagt: Wie können wir sicherstellen, dass Frauen mit formal hohem Bildungsabschluss möglichst schnell wieder an den Arbeitsmarkt gehen und nicht zu lange rausfallen? Und das machen wir am besten, indem wir Anreize für Väter schaffen.
Soweit wird das politisch alles wunderbar umgesetzt und auch kapitalistisch eingehegt. Die Debatte um Care und Gender wird aus meiner Sicht total kapitalistisch vereinnahmt. Aber es geht in der queer-feministischen Debatte um Care eigentlich genau nicht um die individuelle Ebene, z.B. wie individuell mental load besser verteilt werden kann – auch wenn das wichtig für Einzelne ist. Aber die Care-Debatte ist eigentlich in sich eine herrschaftskritische Debatte, die emanzipatorische Potenziale hat, sich aus dieser Verwertungslogik herauszuschälen. Im Diskurs wird aber eben das, was sehr kapitalismusgängig ist und verwertbar ist, politisch eingehegt, auch auf Instagram verwertbar gemacht. Und das eigentlich Widerständige an dieser Frage, nämlich die Frage danach, was wir brauchen, um gut zu leben, das wird politisch uninteressant gemacht.
Insofern würde ich sagen, es gibt eine Einhegung politischer Forderungen zu Care, die sich auf diesen Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit bezieht. Aber Care in seiner radikalen Form als Potential den Kapitalismus und diese Verwertungslogik und diesen Autonomiefetisch zu hinterfragen, das kommt nicht im Diskurs an. Das wird auch nicht berücksichtigt und findet im Grunde keine Rezeption in gesellschaftspolitischen und politischen Arenen.
Aurora: Zeitgleich lässt sich durch die eben angesprochene Verdrängung von Care-Verantwortung ins Private ein Anstieg der individuellen Auslagerung und der damit einhergehenden Ökonomisierung beobachten: Finde ich keinen Platz in einer öffentlichen Kita, bezahle ich eine private, oder habe ich aufgrund meiner Lohnarbeit keine Zeit meine Mutter zu pflegen, bezahle ich eine (oft migrantische) ambulante Pflegekraft. Sie nennen diese Praxis in einem Beitrag „Delegating Care“. Nun stellt diese Verlagerung aufgrund der anhaltenden „Care-Krise“ (kein innerdeutsches, sondern) ein globales Ausbeutungspotenzial dar. Wir denken da beispielsweise an die Triple-„Win“-Abkommen der Regierung. Es scheint also fast so, als hätte der deutsche Staat kein allzu großes Interesse daran, bezahlte Care-Arbeit deutlich attraktiver zu gestalten, von unbezahlter ganz zu schweigen. In einem Beitrag für „Stimme der Familie“ plädieren Sie – vielleicht auch deshalb – für eine „grundlegende Transformation politischer Rahmenbedingungen in der Angehörigenpflege“. Was genau beinhaltet diese Transformation und inwiefern lässt sich diese auch auf andere Bereiche der Care-Tätigkeit, bezahlt und unbezahlt, übertragen?
Sabrina Schmitt: Ich plädiere auch für eine Transformation, aber auf zwei Ebenen. Die Radikale wäre das, was ich vorher angesprochen habe: Care. Und zwar diese radikal widerständige, kapitalismuskritische Perspektive ins Zentrum zu stellen, und danach Politik und gesellschaftliches Zusammenleben auszurichten. Das wäre eine wirklich radikale Transformation, wo es darum geht, was die politische Ökonomie ist, die dieser Carearbeit dienlich ist. Das würde zum Beispiel bedeuten zu fragen: Welche Formen des Zusammenlebens, welche Form von Community ist für uns wichtig? Wie kann Wohnraum so gestaltet werden, dass er Care ermöglicht? Und zwar Care nicht nur in der heteronormativen Kleinfamilie, sondern Care als geteilte gesellschaftliche Verantwortung?
Das würde auch bedeuten, radikal die Kategorie in Frage zu stellen oder überhaupt nicht in dieser Kategorie zu denken, wer oder was jetzt produktiv ist und wer was erwirtschaftet. Care entzieht sich ja genau dieser Produktivität im kapitalistischen Sinne, also dieser stetigen Steigerung und dieser Abschöpfungsmöglichkeit. Es wäre eigentlich wichtig zu fragen: Wie können wir Care ins Zentrum stellen? Was bedeutet es, wenn wir sagen, wir sind alle sorgebedürftig? Wir leisten alle an irgendeinem Punkt Sorge, wir sind nicht autonom und immer dem Arbeitsmarkt verfügbar und unendlich verwertbar. Wenn wir das zugrunde legen, wie sieht dann Gesellschaft aus? Das wäre die radikale Ebene.
Auf einer weniger radikalen Ebene, sondern eher auf einer sozialpolitischen Ebene, die durchaus noch anschlussfähig ist an einen kapitalistisch organisierten Wohlfahrtsstaat, gibt es ja unterschiedliche Dinge, die diskutiert werden.
Mich überzeugt auf dieser Ebene das Konzept der atmenden Lebensläufe sehr, die insbesondere von Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger ins Gespräch gebracht wurden. Bei diesen geht es darum, Zeit im Leben für Care Arbeit bereitzustellen, und zwar Zeitkontingente (genannt wird das dann Zeitrechte), in denen dann Care Arbeit verrichtet werden kann. Zur Care Arbeit gehört dann die Pflege von älteren oder sorgebedürftigen Menschen, von Kindern, aber zum Beispiel eben auch die Selbstsorge und die eigene Weiterbildung. Es würden in unterschiedlichen Phasen im Leben, über den gesamten Lebensverlauf, Kontingente für unbezahlte Care Arbeit zur Verfügung stehen, und das aber bei einer adäquaten finanziellen Absicherung.
Wir brauchen eben immer alle Care und leisten an irgendwelchen Punkten im Leben auch Care-Arbeit, deswegen finde ich dieses Konzept der atmenden Lebensläufe auch sinnvoll. Auch wenn wir keine Kinder kriegen, kümmere ich mich vielleicht in einer Wahlfamilie oder eine Verantwortungsgemeinschaft. Wenn ich mich dann um das Kind von der Freundin kümmere, dann ist dafür im gesamten Lebensverlauf immer Zeit. Und diese Zeit, die ich dann für Care aufwende, führt nicht dazu, dass ich keinen Verdienst habe, weil ich nicht für Lohn arbeite. Es stellt Care in den Mittelpunkt – und zwar nicht nur an einem, sondern an unterschiedlichen Punkten im Leben.
Das wäre am Beispiel der Angehörigenpflege sinnvoll. Wenn ich meine demenziell erkrankte Mutter pflege, könnte die Lohnarbeitszeit an unterschiedlichen Punkten z.B. um fünf Stunden reduziert werden. Bei einem höheren dementiellen Stadium könnte noch weiter reduziert werden, und das idealerweise bei vollem Lohnausgleich. Zum einen ist es effektive Armutsprävention, weil ich eben diese Zeit flexibel nehmen kann, eine adäquate Transferleistung (also einen Lohnausgleich) für meine Care Arbeit erhalte. Somit gerate ich nicht in die Gefahr von Armut. Ich finde das ist ein attraktives Konzept, was ausdifferenziert werden müsste.
Wobei zum Beispiel schon im Gleichstellungsbericht auch durchaus von Pflegebudgets gesprochen wird. Das ist natürlich ein bisschen anders gedacht, aber da gibt es schon Konzepte, wo nochmal empirisch geforscht wird. Da gibt es spannende Ideen und Pilotprojekte zu, die man auf jeden Fall weiterverfolgen könnte und die schon dazu führen würden, dass Care besser verteilt wird. Dass es Rahmenbedingungen gibt, in denen Care nicht zu Armut und die Übernahme von unbezahlter Care Arbeit nicht zum Ausschluss von vielen Teilen gesellschaftlichen Lebens oder sofort zum Burnout führt, weil ich sofort wieder in die Lohnarbeit einsteigen muss. Und das wäre, für mich zumindest, eine sinnvolle, politische Maßnahme mit Potenzial. Das gilt vor allem für den Bereich der unbezahlten Arbeit. Aber natürlich würde das auch implizieren, dass sich alle zuständiger fühlen, Carearbeit zu leisten und vielleicht auch sagen: ja, ich kann mir vorstellen im Bereich der bezahlten Carearbeit zu arbeiten.
Ich glaube, dass es ein spannender Aspekt ist, diese Zuschreibungen aufzubrechen, wenn vollkommen klar ist, alle machen Care im Lebensverlauf. Trotzdem würde ich Ihnen zustimmen und auch sagen, nach den oben genannten Logiken, der Beschäftigungsfähigkeit usw. braucht es auch Aktivismus, um diese Transformation auf einer sehr sozialpolitisch gängigen Ebene umzusetzen. Ich glaube, da ist auch noch einiges zu tun.
Aurora: Wir konnten beobachten, dass die Debatte um Care-Arbeit spätestens seit der Corona-Pandemie deutlich präsenter in den Fokus unserer Gesellschaft gerückt ist, nicht zuletzt aufgrund der immer wieder betonten „Systemrelevanz“. Nun kann man diesen Umstand auf eine Realisierung nicht nur der eigenen Verwundbarkeit, sondern auch der potenziellen Dependenz von Care-Arbeiter*innen, zurückführen. Dabei ist jedoch klar, dass wir alle im Laufe unseres Lebens auf Menschen angewiesenen sind, die Fürsorge für uns leisten; Care-Arbeit ist also relevant für jegliches gesellschaftliches System. Deswegen stellt sich hier die Frage nach der Relevanz von Care-Arbeit für dieses spezifische System, sprich dem (digitalen) bürgerlich-kapitalistischen. Wäre dieses ohne Care-Arbeit jeglicher Form überhaupt denkbar?
Sabrina Schmitt: Nein, natürlich nicht. In der Kritik und auch in der Ökonomie wird davon gesprochen, dass Care conditio humana ist. Care ist Bedingung des Menschseins. Wir sind Menschen wegen Care. Wenn ich mich nicht um ein Kind kümmere, keine Zeit mit ihm verbringe, kann es nicht Teil der Gesellschaft, nicht sozial integriert werden. Wir müssen anerkennen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind. Und zwar nicht nur wir Menschen untereinander.
Wo wir auch bei der Frage von Klimagerechtigkeit sind. Wir sind essenziell auf unsere natürliche Mitwelt angewiesen, wir brauchen die Ressourcen der Umwelt und diese Erkenntnis ist zentral. Das liegt diametral entgegen zu dem, was uns die kapitalistische Verwertungslogik sagen will. Nämlich, dass alle autonom sind, jeder sich rational und unabhängig entscheidet, nach seinen rationalen Ideen. Care ist deswegen auch erstmal ein radikaler Gegenentwurf dazu.
Gleichzeitig ist es natürlich so, dass kapitalistische Verwertungslogik ohne Care Arbeit nicht funktioniert. Das wird sehr deutlich bei der Ressourcenausbeutung in der Natur. Die Natur kann als eine Form von natürlicher Reproduktionsarbeit, also von Care Arbeit gesehen werden. Da gibt es einige super spannende Ansätze zu. Ohne die Vernutzung von natürlichen Ressourcen kann nichts produziert werden. Kapitalismus funktioniert also auch im Sinne von Konsum und das Herstellen von Gütern funktioniert nicht ohne die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Da haben wir schon eine Ausbeutung, wenn wir die Erde als etwas nehmen, was Care leistet oder sich immer wieder selbst generiert und reproduktiv arbeitet. Es ist dann eine Form von Extrahieren von Ressourcen und der Extraktion von Carearbeit. Genauso ist die Reproduktionsarbeit, also die Carearbeit von Menschen, elementar für kapitalistische Verwertungslogik.
Ich habe es vorher schon anklingen lassen, wenn Menschen sich nicht im Bereich der unbezahlten Care Arbeit um Kinder kümmern und sie im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik erziehen, sind sie nicht gut verwertbar im Kapitalismus. Da ist zum Beispiel ein Arbeitsethos wichtig, der sagt: Du musst dich ausbeuten lassen, vor allem in bestimmten Klassen, einen guten Job machen, möglichst beschäftigungsfähig, möglichst gut verfügbar für den Arbeitsmarkt und flexibel sein. Habe einen hohen Abschluss, mach dies, mach das, damit du einen Job bekommst. Das ist ja alles Care Arbeit. Und ohne diese gibt es, in der kapitalistischen Logik gesprochen, kein Humankapital. Es funktioniert nicht ohne Care Arbeit.
Deswegen macht es selbst aus einer kapitalistischen Logik schon Sinn, Care Arbeit ernst zu nehmen. Denn es braucht die Reproduktionsarbeit von FLINTA Personen, um Menschen Teil der Gesellschaft werden zu lassen, um sie so zu sozialisieren, dass sie möglichst gut verwertbar für den Kapitalismus sind. Das ist jetzt eine sehr zynische Sichtweise, aber eben eine Sichtweise. Es braucht natürlich auch Care Arbeit, um Arbeitskraft zu erhalten. Sagen wir mal, eine lohnarbeitende Person wird krank. Aufgrund der Privatisierung von Gesundheitsversorgung wird die Liegezeit im Krankenhaus immer kürzer und Menschen werden früher entlassen. Es braucht also Leute, die sich dann zu Hause um die kranke Person kümmern, bis die wieder fit und arbeitsfähig ist.
Und genauso braucht es auch die institutionalisierte, schlecht bezahlte Care Arbeit, die unter schlechten Arbeitsbedingungen mit hohen Burnout-Raten zu immensen Belastungen führt. Die braucht es eben auch, weil klar ist, dass irgendjemand die kranken Leute versorgen muss. Zum einen aus einer kapitalistischen Logik und zum anderen aus einer normativen, ethischen Idee von: Es ist uns wichtig, uns um ältere Menschen in einer Art und Weise zu kümmern. Das sind nicht nur kapitalistische Logiken, es können auch bestimmte ethische Standards sein, die dann aber nur für bestimmte Gruppen zutreffen.
Wo man besonders deutlich die kapitalistische Logik sieht, ist z.B. bei pädagogischen Fachkräften in Kitas. Die Arbeitsbedingungen sind dort unterirdisch, gleichzeitig ist es aber immens wichtig, dass die Fachkräfte funktionieren, damit die Kinder betreut werden. Das hat man sehr deutlich in der Corona-Pandemie. Stichwort hier auch wieder “gutes Leben”. Da ging es nicht darum, was die Kinder und Jugendliche brauchen. Wenn man das berücksichtigt hätte, hätte man z.B. diskutieren können, die Jugendeinrichtungen unter Einhaltung des Infektionsschutzes offen zu lassen. Denn für das gute Leben von Jugendlichen ist nicht der Onlineunterricht wichtig, sondern Sozialisationsraum, das Treffen von Gleichaltrigen etc. Aber das stand nicht im Mittelpunkt. Stattdessen ging es darum, wie sichergestellt werden kann, dass Erwachsene weiterhin erwerbstätig sein können. Schulen und Kitas, die mussten also offen sein. Hier zeigt sich Systemrelevanz, aber nur vor dem Hintergrund von Beschäftigungsfähigkeit und dem Erhalt kapitalistischer Verwertungslogik, nicht vor dem Hintergrund von gutem Leben und guter Sorge… Da zeigt sich: Systemrelevanz bedeutet, relevant fürs kapitalistische System.
Insofern ist Kapitalismus unbedingt auf Care Arbeit angewiesen und braucht vor dem Hintergrund auch zwingend diese patriarchale Arbeitsteilung. Irgendjemand muss sich primär für Care zuständig fühlen, gleichzeitig möglichst gut am Arbeitsmarkt verfügbar sein und irgendwie noch diese Doppelbelastung stemmen. Da überschneidet sich Kapitalismuskonstruktion auch mit Geschlechterkonstruktionen, die dann sehr wohl gelegen kommen. Wo dann zum einen gesagt wird: Wir wollen möglichst viel Arbeitsmarktpartizipation von Frauen, aber wir wollen auch sicherstellen, dass Care gut geleistet, und Frauen sich möglichst zuständig dafür fühlen.
Das wurde auch von Gabriele Winkler gut herausgearbeitet. Es ist nicht realisitisch, dass FLINTA-Personen einfach keine Care Arbeit mehr machen, weil es einfach zu wenig wohlfahrtsstaatliche Versorgungsstrukturen vorhanden sind. Und Care Arbeit muss ja verrichtet werden, weil sie zentral für Gesellschaft ist. Das führt dann dazu, dass FLINTA-Personen Lohnarbeit und Care Arbeit unter großem Druck vereinbaren müssen.
Insofern verschränkt sich hier die Idee von: Wir brauchen diese geschlechterspezifische Arbeitsteilung, wir brauchen patriarchale Strukturen, um dieses kapitalistische System aufrechtzuerhalten. Irgendjemand muss Care machen und der Wohlfahrtsstaat wird es nicht komplett richten. Auch die Betriebskita wird nicht alles in Wohlgefallen auflösen. Wir brauchen also Leute, die wir (überspitzt gesagt) auch noch mit dieser Care Arbeit ausbeuten können, und die sich so zuständig fühlen, dass sie dann unter der Last von allem – ich pflege Mutti, ich kümmere mich um meine Kinder und ich gehe noch lohnarbeiten – vollkommen zusammenbrechen. Insofern setzt die kapitalistische Struktur ganz gut auf diesen Geschlechterkonstruktionen und der Zuschreibung von “Frauen sind die besseren Kümmerer” auf.
Aurora: Wie lässt sich also bei drohendem Systemkollaps bei Nicht-Übernahme von Care-Arbeit – bezahlt wie unbezahlt – die halbherzige Pflege-/Sorgepolitik der Bundesregierung und die darin ausgeklammerte Frage nach gesamtgesellschaftlicher Fürsorgeverantwortung erklären?
Sabrina Schmitt: Ich befürchte, es gibt keinen drohenden Systemkollaps – das ist das Problem. Denn vor dem Hintergrund dieser Geschlechterkonstruktionen sowie brutal rassistischer Ausbeutungsstrukturen, die wir insbesondere in Form der rassifizierten, migrantisierten 24 Stunden-Pflegerin kennen, sind diese Strukturen global gesehen Teil einer noch viel prekäreren Abwärtsspirale. Weltweit werden Fachkräfte abgeworben, wodurch in den Herkunftsländern ebendieser Fachkräfte Versorgungslücken entstehen, die wiederum gefüllt werden müssen. All das trägt also, so meine Prognose, dazu bei, dass wir im Grunde bereits jetzt von einem kollabierten System sprechen können. Denn sowohl für die Sorgeempfangenden, für die Kinder, für die Älteren, für die Kranken und eigentlich für uns alle, funktioniert dieses fragile System seit Jahren nicht mehr. Und es funktioniert auch schon seit langem nicht mehr für die, die Sorge leisten, bezahlt wie auch unbezahlt.
Care ist conditio humana, also Bedingung von Menschsein. Ohne Care sterben wir, das ist insbesondere den Care-Arbeiter:innen bewusst. Nehmen wir einmal die Krankenhausbewegung. Deutschlandweit gibt es immer mehr Streiks in Kliniken, obwohl bis vor gar nicht all zu langer Zeit gerade von den Pflegekräften häufig Bedenken geäußert wurden, wenn es um die Patient:innenversorgung im Streik ging. Doch gerade aufgrund ihres Bewusstseins für die Zentralität ihrer Arbeit für das “Menschsein” entsteht für Klinikvorstände ein Einfallstor für das hohe Maß an geforderter Selbstausbeutung, das heutzutage in nahezu jedem Krankenhaus an der Tagesordnung ist. Deshalb könnte man sagen, dass das System zwar bereits kollabiert ist, aber der Anreiz zur Fortführung zwecks Alternativlosigkeit jedoch immer noch zu groß ist, als dass Care-Arbeiter*innen und -Gebende einfach ihre Tätigkeit niederlegen. Die Kosten für diese Aufrechterhaltung werden dabei meist von Ländern des Globalen Südens in Form eines massiven Abzugs von Care-Ressourcen getragen, oder aber auf der individuellen Ebene von Eltern, von Sorgenden, von der Fachkraft, die ausgebrannt ist, von den Kindern, die nicht in den Jugendtreff gehen können. Wird das System deswegen aufrechterhalten, weil es ohne Care nicht geht? Ja, denn es gibt Care-Lücken, die nur sehr schwer zu hinterlassen sind, gerade weil sie existenziell bedrohend sein können.
Deswegen wäre ich unsicher, ob es zum drohenden Systemkollaps in Form einer Nichtübernahme von Care-Arbeit kommen kann, oder ob dann nicht einfach die Kosten vor allem wieder bei den höchst vulnerablen Personen und eben auch den Ländern des Globalen Südens liegen. Es gibt glaube ich schon politische Rahmenbedingungen, die eine bessere gesamtgesellschaftliche Fürsorgeverantwortung ermöglichen würden. Der Grundwiderspruch ist, dass eine politische Ökonomie hegemonial ist, die im Grunde auf ein Produkt und eine möglichst große Abschöpfung von Wert ausgerichtet ist, was nur sehr bedingt mit Arbeit wie Care Arbeit in Einklang gebracht werden. Deswegen glaube ich, dass es eigentlich eine radikalere Transformation braucht. Gleichzeitig denke ich, dass auch in den bestehenden Strukturen wesentlich mehr drin ist für Leute, die Care-Arbeit leisten.
Aurora: Jetzt sitzen wir hier zusammen als feministische Aktivist*innen, was bedeutet, dass wir uns aktiv für die Umsetzung feministischer Anliegen engagieren, weil die deutsche Politik dies nicht in dem Maße tut, wie wir es für angemessen halten. Es stellt sich also konstant die Frage: Was tun? Dabei entspricht dieses Tun selbst auch einer Form von Care-Arbeit: denken wir beispielsweise an Stadtteil-Arbeit, kostenlose Bildungsarbeit oder auch die praktische Ausübung feministischer und antikapitalistischer Gesellschaftskritik. All dies vereint die Überzeugung von der Richtigkeit gesamtgesellschaftlicher Fürsorgeverantwortung. Stellt unser Engagement dabei nicht eine Art Widerspruch dar, wenn wir auf der einen Seite das ausbeuterische patriarchale System kritisieren, gleichzeitig jedoch durch unsere unbezahlte Arbeit viele seiner Lücken füllen und somit zu dessen Erhalt beitragen?
Sabrina Schmitt: Wie gesagt: es ist ein Spannungsfeld, kein Widerspruch. Ich würde das unterscheiden. Es ist klar, dass Carearbeit geleistet werden muss. Der Widerspruch ergibt sich aus den Bedingungen, die so unerträglich sind, das sie eigentlich nicht auszuhalten sind – genau diese Bedingungen lösen in einem selber eine enorme unhaltbare Spannung aus. Das liegt aber nicht an den Müttern, es liegt nicht an den Personen, es liegt nicht an dem Aktivismus.
Erstmal Vorneweg: Ich glaube nicht, dass diese Menschen nicht streiken wollen, sondern dass es daran liegt, dass Care so zentral ist, dass man das nicht einfach lassen kann. Man kann nicht einfach sagen „Ja, dann sorge ich mich eben nicht um mein Kind”. Jetzt geht es hier aber auch um den politischen Aktivismus, was noch mal eine andere Form von Sorgearbeit ist.
Zum Spannungsfeld mit dem Aktivismus oder politischen Engagement und dem ständigen Füllen von Lücken: Ich kann solidarisch mit den Fachkräften sein, wenn ich mein Kind früher aus der Kita abhole, weil sie wieder vollkommen überlastet ist. Das geht dann aber auf meine Kappe, und ich verzichte dafür zum Beispiel auf meine Lohnarbeit oder meine Self-Care Time. Das ist natürlich auch ein Privileg, und ein Spannungsfeld. Es ist aber ein Spannungsfeld und kein Widerspruch, weil es das Spannungsfeld durch Engagement bewältige. Es ist für mich eine ständige Belastung, diese Lücke zu füllen und ich kann mich dann auch nicht gut um mich selber kümmern.
Das Spannungsfeld besteht also zwischen „ich kümmere mich jetzt eben gar nicht, scheiß drauf, mir ist das alles zu viel, mein Kind geht in die Kita und wenn die überlastet sind, sind sie es halt” und zwischen “ich arbeite mich jetzt selber total auf, sodass ich mein Kind aus der Kita abholen kann und brenne dabei aus”. Ein produktiver Umgang mit und eine produktive Bewältigung von dieser Spannung ist politisches Engagement. Aus der sozialpädagogischen Perspektive würde ich sagen, das ist der Versuch von FLINTA-Personen in dieser brutal vulnerablen Situation handlungsfähig zu bleiben. Es ist eine Form, mit diesem inneren Druck, dieser brutalen Ambivalenz, diesem Ausgeliefertsein, diesen strukturellen Bedingungen, umzugehen.
Es ist also eine Form, produktiv mit dieser Ambivalenz und dieser Unmöglichkeit der Verhältnisse umzugehen, und eine Form von Handlungsfähigkeit, die einem das Gefühl suggeriert, ich gehe nicht total an diesem Spannungsverhältnis kaputt – und ich glaube, das ist total legitim und wichtig. Politisch aktivistisch unterwegs zu sein, kann für eine Person auch das Potenzial haben, sich in dieser Welt aufgehoben zu fühlen, und die Bedingungen auszuhalten, und nicht das Gefühl zu haben, nicht mehr selbst an der Gestaltung der Verhältnisse beteiligt zu sein.
Zudem erlebe ich dieses aktivistische oder politische Miteinandersein als sorgende Praxis, als Community. Vielleicht ein großes Wort, ja, aber es macht dieses für mich erfahrbar. Wir sind alle aufeinander angewiesen und wir arbeiten widerständig gemeinsam. Ich glaube, das ist eine wichtige Erfahrung in einem System, das Sorge ständig abwertet. Sich gemeinsam um diese Gesellschaft zu sorgen, ist, glaube ich, auch ein sehr zentraler solidarischer Moment, der sehr viel geben kann.
Aus meiner subjektiven Perspektive kann es einem individuell sehr viel Kraft und das Gefühl vermitteln, in Beziehung zu sein, in sorgender Gesellschaft zu sein. Konsequenterweise müsste ich vielleicht sagen: “Ja klar, da entsteht eine Lücke. Nein, ich hole mein Kind nicht früher ab”. Und stattdessen einen Brief an die Bezirksbürgermeisterin schreiben, dass die Kitas unterbesetzt sind. Man könnte aber auch argumentieren, dass beides notwendig ist. Dass diese solidarische Praxis mit den Erzieherinnen eine wichtige Erfahrung des füreinander Sorgens ist. Daraus kann wieder eine Form von politischer Praxis entstehen.
Ich glaube aber auch, dass es gesellschaftlich notwendig ist. Stichwort ist hier nicht nur die AfD, zunehmende rechtskonservative Politik, aber auch rassistische Migrationsregime, ständiger Klassismus, eine Abwertung von armutsbetroffenen Menschen, die ganze Debatte ums Bürger*innengeld usw. Es ist wichtig und ich würde fast sagen alternativlos auf diese Problematiken aufmerksam zu machen und sich mit der widerständigen Praxis, wie auch immer die dann aussieht, zu positionieren. Ich halte das in der Welt, in der wir gerade leben, in der rechtsradikalen Ideologien in Deutschland in der Kontinuität der Shoa immer mehr Deutungsmacht erfahren, für alternativlos. Antifaschistischer Widerstand und politische Praxis sind zentral für unsere Gesellschaft.
Ich würde mich als queerfeministische Person bezeichnen, die politisch aktiv ist. Ich, als weiße, privilegierte Person kann aber auch relativ gefahrlos, mit einem deutschen Pass, politisch aktiv sein. Ich halte es für zentral, dass die Leute, die jetzt in der Lage sind, sich aufgrund ihrer Privilegien zu engagieren, es auch tun.
Es ist alternativlos, engagiert zu bleiben. Und das kann zu inneren Spannungen führen. Das gilt es produktiv zu machen und nicht als Spannungen, die man selber wahrnimmt, sondern als Systemspannungen zu begreifen. Diese Systemspannungen lösen die individuellen Spannungen aus. Und letztlich ist es so, dass es auch spannungsreich ist, wenn man sich nicht engagiert. Es ist ein unglaubliches Spannungsverhältnis zu erleben, z.B. “Ich bin krank und traue mich kaum, mich krank zu melden, weil ich muss doch verfügbar sein.” Der Alltag ist voller Widersprüche zu dieser ständigen Verwertungslogik und diesem ständigen Erleben. Eigentlich brauche ich Care oder würde mich gern kümmern, aber es gibt überhaupt nicht die Rahmenbedingungen dazu. Insofern glaube ich, ist es besser den Widerspruch oder das Spannungsgefühl in Bezug auf Aktivismus zu haben. Denn dieses Leben ist spannungsreich, weil Sorge eben so wenig bis keinen Platz hat.
Aurora: Wir würden zum Schluss gerne noch einige feministische Utopien anreißen. Einige von uns haben einen gewerkschaftlichen Hintergrund, wir setzen uns also mit Streik nicht nur als Arbeitskampfmaßnahme, sondern auch als politischem Druckmittel auseinander. Stellen wir uns also nun einen feministischen Generalstreik vor, wie er bspw. regelmäßig im Baskenland praktiziert wird – nur eben streiken dieses Mal alle FLINTA mit Care-Verantwortung, ob bezahlt oder nicht. Unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, würde mit großer Sicherheit kollabieren, wir reden also von einem enormen und vielleicht nicht zu verantwortenden Druckmittel. Die Frage wäre aber auch: Welche Art von Systemwechsel müsste also erstreikt werden, damit Care-Arbeit nicht mehr ungleich verteilt ist, sie nicht mehr wie in so vielen Fällen in Prekarität endet, sie nicht mehr entweder als Last oder Broterwerb, sondern als universeller Teil unseres Mensch-Seins angenommen wird, kurz: Wie wäre Care-Arbeit im guten Leben organisiert?
Sabrina Schmitt: Erstmal zum Thema Streik: ja, streiken ist schwierig, wenn es um Care-Arbeit geht, aber nicht unmöglich. Nach der Argumentation von Joan Tronto gibt es aktuell in der Gesellschaft ganze Gruppen von Menschen, die sich im kapitalistischen System quasi ihrer Sorgeverantwortung entziehen können. Hierzu gehören zum Beispiel reiche Menschen, Männer oder männlich gelesene Personen, aber natürlich auch reiche weiße Frauen, die eben ihre Care Arbeit abgeben. Diese Menschen müssten in die Verantwortung genommen werden.
Ich fände es eine wahnsinnig coole Sache zu sagen, es gibt einen FLINTA-Streik, und in der Zeit müssen die Personen die Carearbeit leisten, die sich bisher aufgrund von gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in diese privilegierte Verantwortungslosigkeit zurückziehen konnten. Also jetzt mal ein bisschen plakativ gesagt: Die Krankenpflegerin streikt und stattdessen kommt der Vorstandschef und wechselt die Bettpfanne. Wenn Streik zu einer Umverteilung der Carearbeit führen würde, fände ich das nicht uninteressant, und auch durchaus zu verantworten.
Und Streik in dem Bereich ist auch nicht unmöglich. An der Berliner Charité wurde beispielsweise von Pflegekräften gestreikt, und auch Erzieherinnen haben gestreikt. Hier kommt aber beispielsweise die Solidarität von anderen Eltern ins Spiel, die flexibel sind. Da gilt es selber solidarisch zu sein und seine eigenen Sorgeprivilegien kritisch zu hinterfragen. Wenn man beispielsweise einen Job hat, der sehr viele Möglichkeiten eröffnet, und einen sehr privilegiert und damit flexibel sein lässt, kann man sich da auch solidarisch verhalten. Ich finde, Streik ist ein sehr gutes Mittel, vor allem, wenn er wirklich punktuell diese Umverteilung der Verantwortlichen bedeuten würde.
Nun zu der Frage nach dem Systemwechsel. Die Frage, wie wir Care Arbeit im guten Leben organisieren, kann ich nicht beantworten. Da bin ich auch wieder bei Joan Tronto, die sagt, wir müssen erstmal in die Position kommen, dass die Sorgenden sprechen können und dass vor allem auch die Sorgeempfangenden sprechen können. Wir sind alle an unterschiedlichen Punkten im Leben unterschiedlich sorgebedürftig, ob Kinder, chronisch kranke Menschen, Eltern, pflegebedürftige ältere Menschen, demenziell Erkrankte usw. Joan Tronto sagt, dass wir erst gesellschaftlich aushandeln müssen, wie überhaupt gute Care Arbeit aussieht – das weiß aktuell niemand, weil wir gerade eher in der Position sind, dass das gemacht wird, was möglich ist. Diskursiv gesehen sprechen vor allem reiche und weiße Menschen darüber, was gute Sorge ist. Niemand fragt eine 24-Stunden-Pflegekraft: “Was glaubst du ist gute Care Arbeit?” Ich glaube, es braucht also einen Prozess der Aushandlung. Es muss eine Arena geben, in der das genau ausgehandelt wird. Und es braucht Zeit, diese Fragen gesamtgesellschaftlich auszuhandeln. Und das wäre meiner Ansicht schon nach schon eine parlamentarisch-politische Aufgabe, das quasi zum Gegenstand zu machen.
Und da sind wir schon wieder bei der Frage danach, wie wir Care ins Zentrum stellen. Wenn wir über Fragen wie fehlende Erbschaftssteuer und Steuererhöhungen oder -senkungen sprechen, müssen wir uns immer fragen: Was bedeutet das für Care? Wer wird da wieder in die Verantwortungslosigkeit entlassen? Wie unterstützen wir das System, dass sich Leute eben dieser Care Arbeit immer wieder entziehen können und immer wieder sagen können: “Ja warum? Ich mach doch schon was anderes, ich arbeite, ich zahle Steuern, das ist doch Care – ich kümmere mich doch mit Geld um die Gesellschaft!”.
Joan Tronto tritt auch stark dafür ein, bei jeder sozialpolitischen oder auch politischen Maßnahmen zu fragen: “Wie und inwiefern ermöglicht es Teilhabe für Sorgende und Sorgeempfangende? Welche Konsequenzen hat diese politische Maßnahme für die Repräsentation von Sorgenden in Entscheidungsgremien?” Das wäre eine zentrale Arena, in der diese Bedarfe mal ausgehandelt werden müssten.
Insofern kann ich keine Antwort darauf geben, wie das konkret aussähe. Aber ich kann die Antwort geben, dass es wichtig wäre – nein, dass es zwingend erforderlich ist – ein breites Spektrum an Sorgeempfangenden und Sorgenden dazu sprechen und arbeiten zu lassen. Da gehört diese Frage hin. Und zu diesen gehören ja im Grunde alle Menschen. Ich schließe mich da Joan Tronto an: in meinem Verständnis muss zwingend dafür gesorgt werden, dass Leute aus dem Privileg der Verantwortungslosigkeit rauskommen.
Jeglicher wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Organisation eines guten Lebens muss zugrunde liegen, dass es keine Person gibt, die sich dieser Verantwortung für Care qua ihres Geschlechts oder Reichtums entziehen kann. Man muss aus einer marxistischen Perspektive darauf schauen und dem Umstand entgegenarbeiten, dass Personen überhaupt so entfremdet von Sorge sein können, dass sie überhaupt nicht mehr wissen, was es eigentlich bedeutet, sich zu kümmern. Ich glaube, das ist das, was zentral sein muss. Auch Nancy Fraser macht dazu viele spannende Perspektiven auf.
Auf den deutschen Nationalstaat bezogen müsste man schauen: Welche Folgen hat unsere Organisation von Care-Arbeit zum Beispiel in Ländern des globalen Südens? Was bedeutet es eigentlich für die Länder, dass wir das hier so organisieren? Auch die Perspektive von Nachhaltigkeit und ökologischen Ressourcen muss man betrachten, also quasi die reproduktive Kraft von Natur auch noch mal in die Perspektive einbinden.
Also ja, es gibt leider keine abschließende Antwort. Aber was wirklich zwingend Voraussetzung ist, ist dass sich niemand von Sorge entfremden oder anders gesagt, freikaufen kann. Ohne das und ohne die Repräsentation von Sorgenden und vor allem Sorgeempfangenden werden wir keine, an Care ausgerichtete, gute Care Arbeit hinbekommen.