Frank Deppe: „Working Class is back“

Wir teilen diesen Kommentar von Frank Deppe zu den aktuellen Klassenkämpfen mit freundlicher Genehmigung der Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Die Z ist eine wichtige Stimme der marxistischen Linken in Deutschland und dient als pluralistisches Diskussions- und Publikationsorgan. Das aktuelle Heft, aus dem auch dieser Kommentar stammt, läuft unter dem Titel „Wessen Weltordnung?“ und enthält wertvolle Beiträge zu den globalen Kräfteverschiebungen im 21. Jahrhundert.

Vom 7. bis zum 10. August findet die Marxistische Studienwoche der Z in Frankfurt statt. In diesem Jahr zum Thema „Multiple Krise? Zuspitzung, Bearbeitung und Gegenkräfte“
Mehr Infos dazu findet ihr hier: https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/topic/74.vorschau.html

Seit Anfang des Jahres 2023 rollt eine Welle von Streiks und politischen Massendemonstrationen durch Westeuropa. Es handelt sich dabei in einigen Ländern um die heftigsten Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den Kapitalisten sowie mit den Regierungen ihrer Länder seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Durch den globalen Finanzmarktkapitalismus, durch die erfolgreiche „Gegen-Revolution“ des Neoliberalismus und durch die darin eingeschlossenen Veränderungen der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen wurden Gewerkschaften in ganz Europa enorm geschwächt. Sie mussten durch „raue See“1 gehen. Ihre strukturelle, organisatorische und ideologische Macht verminderte sich deutlich2, während gleichzeitig die sozialistischen und kommunistischen Parteien in eine tiefe Krise gerieten.

In Großbritannien streikten am 1. Februar 2023 eine halbe Million Menschen, überwiegend aus dem öffentlichen Dienst.3 Sie protestierten gegen die Folgen der Inflation und die Austeritätspolitik der konservativen Regierung. Seitdem konzentrieren sich die Streikbewegungen auf den nationalen Gesundheitssektor (NHS), wo PflegerInnen, AmbulanzfahrerInnen und ÄrztInnen seitdem bis heute im Mittelpunkt des Streikgeschehens stehen. Sie werden durch Streiks von LehrerInnen, BBC-JournalistInnen und vielen anderen Berufsgruppen – selbst von PolizistInnen und Finanzbeamten – unterstützt. Es geht dabei nicht allein um kräftige Lohnforderungen. „Aufgestaute Wut“ entlädt sich auch gegen steigende Mieten, Energiepreise und Zinsen. Die Kämpfe richten sich zugleich gegen katastrophale Arbeitsbedingungen im Bereich des Gesundheitswesens, gegen den Notstand bei den Pflegeberufen und der Kinderbetreuung, gegen die Unterausstattung der Schulen und an- derer Institutionen des Bildungswesens, gegen Defizite im Bereich der Infrastruktur und des Verkehrswesens.

Hier explodieren die Widersprüche, die sich seit mehreren Jahrzehnten durch die neoliberale Politik der Privatisierung und Marktliberalisierung, durch den Abbau des Sozialstaates und durch die Schwäche der Gewerkschaften und der politischen Linken zugespitzt haben. Aus Portugal (wo die Sozialisten mit absoluter Mehrheit regieren) wird von massiven Arbeits- kämpfen nicht nur der LehrerInnen an den Schulen berichtet – ebenso aus Griechenland, Belgien und anderen EU-Staaten. In Deutschland steht die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di seit Jahresbeginn in harten Tarifauseinandersetzungen im Bereich der Post, des öffentlichen Dienstes und des Einzelhandels; die Eisenbahnergewerkschaft (EVG) und ver.di haben im März per Warnstreik den Schie- nen- und Flugverkehr im ganzen Land lahm gelegt.4 In diesen Auseinandersetzungen stehen oft junge Kollegin- nen aus dem Gesundheitswesen, aber auch aus den Kitas und Schulen an vorderster Front. In Marburg und Gießen wurde das privatisierte Universitätsklinikum durch einen dreiwöchigen Streik gezwungen, einem „Entlastungstarifvertrag“ zuzustimmen.

Politisches Zentrum dieser Klassenkämpfe ist derzeit Frankreich, wo eine von den Gewerkschaften geführte breite politische Bewegung von politischen Massenstreiks gegen die Rentenpolitik des Staatspräsident Macron – inzwischen ein offener politischer Machtkampf anhält.5 Dieser richtet sich auch dagegen, dass Macron mit der Inkraftsetzung der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre das Parlament ausgeschaltet hat. Er bediente sich dabei eines Artikels aus der Verfassung der V. Republik, die im Jahre 1958 als Präsidialverfassung (offen für ein bonapartistisches „Notstandsregime“) für den Machtantritt des Generals De Gaulle installiert worden war. Dieser ließ sich seine Entscheidungen durch Plebiszite bestätigen!

Im langen Zyklus der neoliberalen Hegemonie, der in den 90er Jahren seinen Höhepunkt erreicht hatte, zeichnet sich seit etwa 2000 ein Niedergang – vor allem aber ein Verfall der Zustimmung „von unten“ – ab. Materielle Basis dafür ist die Entfaltung der inneren Widersprüche der neoliberalen Herrschaftskonstellation: ökonomische und soziale Krisen, Instabilität des Finanzsektors, zunehmende soziale Ungleichheit, die Herausforderungen durch die Umwelt- und Klimakrise, durch Massenmigration und die globale Ausbreitung von Epidemien. Seit 2021 sind die Risiken der De-Globalisierung in den Vordergrund getreten – die Nationalstaaten werden aufgewertet, erweisen sich aber als unfähig, erfolgreich der „Vielfachkrise“ oder „Zangenkrise“ zu begegnen.

Nach der großen Finanzkrise der Jahre 2008/09 entwickelten sich weltweit Protestbewegungen: vom arabischen Frühling über Europa („Podemos“ u.a.) bis in die USA („Occupy Wall Street“)6. Die punktuell erfolgreichen Kampagnen der Sozialisten Jeremy Corbyn in GB und von Bernie Sanders in den USA wurden vor allem von jungen Menschen unterstützt, die es richtig fanden, die Kapitalismuskritik mit einem Programm („For the Many, not the Few“) zu verbinden, das sich als „working class politics“ klar gegen Rassismus und Nationalismus stellt und konkrete Maßnahmen im Kampf gegen soziale Ungleichheit, sozialen Abstieg sowie gegen den Klimawandel einfordert. Sie ernteten breite Zustimmung für die Forderung, dass die Macht für die Bürger von den Eliten zurückgewonnen werden muss.

Diese Welle erschöpfte sich schnell. Sie wurde im arabischen Raum mit brutaler Gewalt unterdrückt – politische Erfolge (z.B. Podemos) erwiesen sich als wenig überzeugend und instabil. Inzwischen hat sich aber in der Folge der Massenmigration, der Corona-Pandemie und des Ukrainekrieges die soziale Lage der subalternen Volksklassen weiter verschlechtert. Die Inflation – vor allem die steigenden Preise für Mieten, Energie und Grundnahrungsmittel – hat jetzt die Gewerkschaften zurückgebracht. Deren elementare Aufgabe besteht zu- nächst einmal darin, über den Lohn die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft zu sichern. In jedem Land folgen diese Kämpfe eigenen Regeln und Traditionen. Dennoch ist es die Verbindung dieser elementaren Interessenlage mit der Erfahrung der sozialen Ungleichheit, der Krise der staatlichen Institutionen im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion (Bildung, Infrastruktur, Gesundheit, Alterssicherung etc.), die den Charakter dieser jüngsten Welle von Klassenkämpfen auszeichnet.

Die Spezifik dieser Kämpfe besteht darin, dass sie nicht durch die industrielle Arbeiterklasse (z.B. der Automobilarbeiter, die in den 70er Jahren an der Spitze standen), sondern von Schichten der Lohnabhängigen getragen werden, die im Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen arbeiten. Dort waren Gewerkschaften traditionell schwächer, mussten in den letzten Jahren vielfach neu aufgebaut werden. Der Anteil der Frauen, aber auch von prekären Beschäftigungsverhältnissen ist hier viel- fach besonders hoch. Die Strukturveränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse, die sich in den letzten Jahrzehnten der Großen Transformation vollzogen haben, reflektieren sich nunmehr also auch im Profil der Klassenkämpfe selbst.

Darüber hinaus richten sich ihre Forderungen vielfach an den Staat bzw. an die Regierung. Die Kämpfe finden in den Staatsapparaten selbst statt. Das betrifft dann nicht allein die Entlohnung von Pflegeberufen, BusfahrerInnen, LehrerInnen, Feuerwehrleu- ten, PolizistInnen usw., sondern auch die finanzielle Ausstattung der Institutionen, in denen sie arbeiten, mit staatlichen Mitteln, die nicht nur die Löhne der dort Arbeitenden, sondern auch deren Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt die Qualität der Leistungen (z. B. im Gesundheitswesen oder in den Schulen) verbessern.

Hier also stoßen wir auf den politischen Kern und die Spezifik der großen Streikbewegungen des Jahres 2023. Sie werden durch die Inflation angetrieben, stellen aber auch gleich- zeitig die Prioritäten des kapitalistischen Staates bei der Bewältigung der Krisen unserer Zeit infrage: die Priorität der Rüstungsausgaben im Gefolge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine auf der einen, das Ausbalancieren zwischen der Energiewende im Zeichen des Ausstiegs aus fossilen Energieträgern („grüner Kapitalismus“) und der notwendigen Ausdehnung staatlicher Finanzierung im Bereich der Reproduktion, der Gesundheit, der Infrastruktur und des Bildungswesens auf der anderen Seite. Dazu kommen die notwendigen Aus- gaben in den Bereichen Innovation, Forschung und Wissenschaft, die durch die globale Konkurrenz um die Beherrschung der „digitalen Revolution“ erzwungen werden. Die Auseinandersetzungen um solche Prioritäten (unter dem Titel „Schuldenbremse, ja oder nein“) finden nicht nur in der Regierung statt. Sie werden auch durch die im Zuge des krisenhaften Verfalls der neoliberalen Hegemonie steigende Staatsverschuldung und die Instabilität der internationalen Finanzmärkte belastet. Hier berühren sich die Forderungen der Gewerkschaften mit den Forderungen der Klimabewegung, aber auch mit denen der Friedensbewegung. Es wäre Aufgabe einer politischen Linken, diesen politischen Kern der Kämpfe – verbunden mit einer Kritik des Kapitalismus, die über diesen hinaus denkt – in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen innerhalb und außerhalb der Parlamente zu stellen. Für die Gewerkschaften wird es eine entscheidende Frage sein, ob und wie es ihnen gelingt, ein Abflauen der spontanen – durch Wut angetriebenen – Streikbereitschaft zu verhindern. Wichtiges Ziel bleibt, in diesen Kämpfen auch die Organisationen zu stabilisieren, viele neue Mitglieder zu gewinnen, um dabei über den Tag hinaus strukturelle Macht – auf dem Arbeitsmarkt sowie bei der Verteilung des Sozialprodukts, schließlich auch mit Blick auf die Prioritäten der Regierungspolitik – zurückzugewinnen.

Frank Deppe


Ich widme diesen Text dem Andenken an Otto König, den ehemaligen Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Hattingen und Mitherausgeber der Zeitschrift „Sozialismus“ und des „Forum Gewerkschaften“, der am 31. März 2023 verstorben ist.

1  Vgl. u. a. Steffen Lehndorff, Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten: Rough Waters. European Trade Unions in a Time of Crisis, Brussels, European Trade Union Institute, 2017.

2  Vgl. Ullrich Brinkmann u.a.: Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung ? Umrisse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008.

3  Vgl. dazu den Beitrag von Dieter Reinisch in diesem Heft, S. 121ff.4 Vgl. den Beitrag von Fanny Zeise in diesem Heft, S. 117ff.

5 Vgl. dazu den Beitrag von Sebastian Chwala in diesem Heft, S. 128ff.

6 Vgl. u.a. Paul Mason: Why it’s Kicking Off Everywhere. The New Global Revolutions, London / New York 2012.