Vor und nach dem diesjährigen revolutionären 1.Mai rumorte es in der Frankfurter linken Szene – ein Wort im Aufruf wurde verdächtigt in Bezug zu nationalsozialistischer Propaganda zu stehen und damit die Tür zu öffnen für eine antisemitische Kritik am Kapitalismus.
Wie üblich wurde viel getratscht und wenig miteinander diskutiert. Die Gruppe Kritik&Praxis hat sich für einen anderen Weg entschieden und in einem offenen Brief die entsprechende Passage kritisiert und um ein Statement gebeten. Dem ist eine der organisierenden Gruppen gerne nachgekommen. Herausgekommen ist ein kurzer Briefwechsel, den wir an dieser Stelle gerne dokumentieren, um Unklarheiten auszuräumen und grundsätzlich für diesen Stil der innerlinken Auseinandersetzung zu plädieren.
Text von Kritik&Praxis:
Liebe Genoss*innen,
erst einmal wollen wir euch zu einer großen und kämpferischen Demonstration zum 1. Mai gratulieren. Die Reaktionen der bürgerlichen Presse im Nachgang der Demo können uns natürlich nicht verwundern, zeigen aber mal wieder deutlich, dass diese zum einen keine Augen im Kopf haben, wenn sie von 1000 Teilnehmer*innen spricht und auf der anderen Seite wie eh und je die Propaganda der Bullen wiederholt. Selbst bürgerlichen Medien könnte aufgefallen sein, dass den menschenverachtenden Gewaltexzesse der Frankfurter Bullen vom letzten Jahr keine Provokationen aus der damaligen Demo vorausgingen, sondern sie allein auf das Einsatzkonzept und völlig enthemmten BFE-Einheiten zurückzuführen war. Aber dieses Spiel kennen wir ja alle zur Genüge.
Wir schreiben euch diesen Brief, da euer Aufruf zur diesjährigen Demonstration bei uns einige Fragezeichen ausgelöst hat über die wir gerne mit euch diskutieren würden. Da in dieser Szene zur Zeit viel zu viel übereinander und viel zu wenig miteinander diskutiert wird haben wir uns für die Form eines internen Briefes entschieden. Wir würden uns freuen, wenn ihr uns eine Antwort schickt und wir so in eine gemeinsame Diskussion kommen. Wir hatten die Idee, dass wir den Briefwechsel im Nachhinein veröffentlichen könnten, um im Optimalfall mal wieder eine produktive Diskussion in der Szene zu führen. Falls ihr das nicht möchtet ist das selbstverständlich OK, wir veröffentlichen in dem Fall natürlich keine interne Kommunikation, sondern würden eventuell in einer anderen Form nochmal dazu schreiben.
Es mag nur ein kleines Wort sein aber es hat eine lange Geschichte – Wir waren überrascht, dass in eurem Aufruf der folgende Satz fällt: „Auf der Jagd nach neuen Einflussgebieten und Absatzmärkten teilen die Reichen und Mächtigen die Welt unter sich auf, raffen alles an sich.“ Das Wort „raffen“ hat eine lange Geschichte in der Nazipropaganda und öffnet die Tür zu einer Kapitalismuskritik, die das Kapital in schaffende und eine raffende Sphären unterteilt. Eine Vorstellung die nun beinahe so alt ist wie der Kapitalismus selbst und gerade in Krisenzeiten immer wieder populär wird. Der Sprung von einer solchen Kapitalismuskritik zu einer Vorstellung, dass diese Welt von geheimen Mächten, und wie ein Blick auf die Geschichte von Verschwörungstheorien schnell zeigt, von Juden und Jüdinnen kontrolliert wird, ist leider nur ein recht kurzer. Wir glauben also das dadurch das Tor zu einer Interpretationsmöglichkeit aufgestoßen wird von der wir sicher sind, dass ihr sie eigentlich ebenfalls ablehnt.
Nicht erst seit Corona leben wir in einer Gesellschaft in der Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet ist. Doch seit dem Ausbruch der Pandemie erleben wir einen wahren Rausch antisemitischer Verschwörungserzählungen welche sich tagtäglich auch in Übergriffen auf Juden und Jüdinnen äußern. Für uns sollte es auch deshalb maßgeblich sein, dass diese in der Radikalen Linken ein Zuhause finden können und wir mit der gebührenden Sensibilität arbeiten. Auf die s.g. Antisemitismusbeauftragten des Staates können wir uns dabei selbstverständlich nicht verlassen. Deren einseitiger Fokus ist nur allzu offensichtlich und versäumt es kontinuierlich, den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft und in ihren eigenen Parteien anzusprechen.
Wir glauben, dass es gerade als antifaschistische Linke entscheidend ist, jede Möglichkeit von antisemitischen Interpretationen in unseren Texten auszuschließen. Das gleiche gilt selbstverständlich genauso für Rassismus, Sexismus, Ableismus, Homo- Transphobie und Klassismus. Unsere Wut auf dieses System muss in unseren Texten klar vermittelt werden, und wir müssen unsere Texte so schreiben, dass nicht nur Akademiker*innen sie verstehen. Aber wir sollten uns gut überlegen, wie wir unsere Kritik und Wut vermitteln, ohne zu sehr zu verkürzen, ohne uns in die Nähe (und sei es nur mit dem Vokabular) von antisemitischen Bildern zu bewegen. Dafür haben wir selbstverständlich auch keine Blaupause, aber vielleicht kann diese Diskussion dabei ja fruchtbar sein.
Wir alle Leben in einer Gesellschaft, die von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus etc. durchdrungen ist. Die beständige Reflexion dieser internalisierten Unterdrückungsmechanismen muss deshalb beständige Aufgabe unserer politischen Praxis sein, sonst ist sie keine emanzipatorische. Dabei behaupten wir sicher nicht in irgendeiner Weise ohne Fehler zu sein und freuen uns jederzeit über solidarische Kritik von euch.
Wir freuen uns auf eure Antwort und eure Sicht der Dinge.
Solidarische Grüße
K&P
Antwort von Aurora:
Liebe Genoss:innen,
wir danken euch für eure Frage und wollen versuchen kurz darauf zu antworten. Wir finden die Veröffentlichung auch sinnvoll und würde das auch über unsere Kanäle machen!
Es ist natürlich nicht an uns vorbeigegangen, dass über den Kurzaufruf diskutiert wurde. Auf direkte Nachfragen zu dieser Thematik haben wir stets Stellung bezogen. So antworteten wir z.B. am 07. April 2022 auch auf Twitter auf einen entsprechenden Hinweis:
„Eine Unterscheidung in ‚raffendes‘ und ‚schaffendes‘ Kapital wird natürlich nicht vorgenommen. Die Wortwahl ist unglücklich gewählt, eine antisemitische Konnotation in diesem Kontext ist nicht beabsichtigt. Wir begreifen Klassengegensätze und Kapitalismus im marxistischen Sinne. Faschismus begreifen wir als die aggressivste Form des Kapitalismus, als Revolutionäre bekämpfen wir beides und stehen auch klar entgegen der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten. Danke für deinen Hinweis!“
Dies also vorweggeschickt: wir wollen die Verwendung des Wortes „raffen“ im Aufruf selbstverständlich nicht verteidigen, da zahlreiche passendere Begriffe existieren, die keinen Raum zum Missverstehen unserer Kapitalismusanalyse lassen. Dementsprechend war es im Rückblick natürlich ein Fehler dieses Wort zu benutzen, auch wenn im Fortlauf des Aufrufs unserer Ansicht nach keine Anhaltspunkte zu finden sind, welche die von diesem Wort suggerierte, ebenso unwissenschaftliche wie antisemitische Kapitalismusanalyse stützen. Gleichzeitig bot dieser Fehler leider eine Steilvorlage für alle, die nur einen Grund gesucht haben, dieses Jahr doch nicht zum 1. Mai zu mobilisieren.
Rund 15 Texte und inhaltliche Statements sind im Zuge der Mobilisierung entstanden, teilweise recht allgemein, teilweise aber auch zu Themen, die in der Linken eher umstritten sind und vielleicht sogar eine Diskussion hätten auslösen können. Worum scharrt sich aber die Szene-Linke? Um ein Wort, das, wenn es mit einem falschen Gegensatz gepaart wird, zu einer antisemitischen Figur wird. Dies ist im Kurzaufruf jedoch nicht passiert, denn als Marxist:innen wissen wir um die Unwissenschaftlichkeit und Falschheit einer Kritik, die rein auf die Zirkulationssphäre zielt, da sie dort Ausbeutung der „raffenden“ Zinswirtschaft ausgemacht zu haben meint; sprich eine Kapitalismuskritik, die an das antisemitische Stereotyp vom „jüdischen Wucherer“ anschlussfähig ist.
Eigentlich könnte man es auch dabei belassen, aber weil euch das – natürlich nicht ohne Grund – wichtig ist, und wir euch als Genoss:innen ernst nehmen, möchten wir eine kleine Ausführung nachschieben, um der Frage nachzugehen, wo diese falsche Kapitalismuskritik der Aufteilung in „schaffend“ und „raffend“ ihren Ursprung hat.
Schon im Werk des französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon wurde, neben seinem offenen Antijudaismus, die Ansicht vertreten, dass das Hauptproblem des Kapitalismus in der Zirkulation zu finden sei. Seine wenig bestechende Argumentation umfasst im Kern die These, dass knappes Geld Produktion und Austausch behindern würde. Dafür verantwortlich seien die Geldhortenden, die das wichtige Tauschmittel ansparen, um Zinsen zu kassieren. Aus seiner Sicht müsse man einfach die von ihm als schlecht diagnostizierten Elemente (die Zinswirtschaft der Zirkulationssphäre) aus dem bestehenden System entfernen, da das (kapitalistische) Wertgesetz allgemeingültig sei. Dass dies Schwachsinn und zudem die Auffassung, dass man sich den Kapitalismus schönschleifen könne, eine Träumerei ist, wusste auch Marx schon.
Aufbauend auf Proudhon versuchte Silvio Gesell in seinem Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“ Marx‘ Kapitalismusanalyse zu widerlegen. Er unterschied nicht zwischen aus ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln begründeten gesellschaftlichen Klassen, sondern für ihn stellten Arbeiter:innen eigentlich alle dar, die vom Ertrag ihrer Arbeit leben. Also Bullen, Pfarrer, Künstler, Handwerker, Bauern, Soldaten – ja selbst der König fällt für ihn da irgendwie drunter. Die einzige Gruppe, die sich in seiner Theorie nicht als Arbeiter:in qualifiziert, sind Rentiers – also Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus Arbeit, sondern aus dem Ertrag vom Kapitalzinsen bestreiten.
Das Ausblenden des Klassenwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit ermöglichte es Gesell folgende absurde Idee zu formulieren: Wenn Zinsen wegfallen, dann erhöhen sich einfach alle Einkommen und es wird endlich „fair“ und nach „den Gesetzen des Wettbewerbs“ verteilt – also nach dem Prinzip, welches er mit „dem Tüchtigsten den höchsten Arbeitsertrag“ skizzierte und das zugleich auch Ausdruck seines unverhohlenen Sozialdarwinismus war (Marktwirtschaft als „Kampf ums Dasein“ zur „Hochzucht“ der Tüchtigsten).
Die Gesellianer wollten also eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus – dafür aber mit Konzepten wie Freiland, Freihandel und Freigeld. Diese Ideen erfreuen sich auch heute noch nicht nur zufällig in vielen antisemitischen Reichsbürger-Sekten großer Beliebtheit, denn Gesell verortete, in Ablehnung von Marx‘ Werttheorie, die Ausbeutung allein in der Zirkulationssphäre. Mit Rückgriff auf Proudhon schuf Gesell die Idee von einem guten, weil produzierenden, und einem bösen, weil zinsabschöpfenden Kapital. Es geht also nicht gegen das Kapital schlechthin, sondern gegen das zinstragende, das später von den Nationalsozialisten so genannte „raffende“ Kapital. Dieses personifizierten die Nazis mit „den Juden“ und versuchten somit ihrem Antisemitismus mittels der Unterscheidung zwischen schaffend und raffend ein pseudo-wirtschaftstheoretisches Fundament zu verleihen. Dass schaffendes Kapital immer auch Geldbesitzer, und umgekehrt Banken immer auch Eigentümer an Unternehmungen sind, wird von Gesell nicht verstanden. Finanz- und Industriekapital sind untrennbar miteinander verwoben und bilden den Motor der kapitalistischen Entwicklung.
Dass es die marxistische Analyse braucht, um diesen Teil des modernen Antisemitismus zu kritisieren, zeigt Gesell selbst, indem er den Antisemitismus zwar kritisiert, aber das Bild des raffenden Juden weiter pflegt: „Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens […]. Die Münzreform [sein eigener Vorschlag; Anm. d. Verf.] macht es unmöglich, daß jemand erntet ohne zu säen, und die Juden werden durch dieselbe gezwungen werden, die Verwerthung ihrer großen geistigen Fähigkeiten nicht mehr im unfruchtbaren Schacher zu suchen, sondern in […] der ehrlichen Industrie.“
Gepaart mit seiner menschenverachtenden Vorstellung der „natürlichen Auslese der Fähigsten“ und dem üblichen Antikommunismus, legte er den Grundstein für viele (proto-)faschistische Projekte.
Long story short: der Gegensatz von ‚raffend‘ und ’schaffend‘ ist ebenso gefährlicher wie unwissenschaftlicher Quatsch. Das darf man auf keinen Fall machen. Außerdem lohnt es sich auch nicht ‚raffen‘ in einen Text zu schreiben, weil dann Leuten die Interpretationsmöglichkeit eröffnet wird, zu denken, dass man diesen Widerspruch in seiner Kapitalismusanalyse mache. Das kann nun wirklich niemand wollen.
Solidarische Grüße
Aurora